Lebensmüdigkeit ist behandelbar

Die Anklage gegen Sterbehelfer Kusch hat die Diskussion um das ethisch umstrittene Thema neu entfacht. Die Ärztekammer Hamburg fordert die schnelle Verabschiedung eines Gesetzes gegen kommerzielle Sterbehilfe. Wir haben mit Dr. Anne-Marie Stüven gesprochen. Die 47-jährige betreibt eine Hausarztpraxis in Nettelnburg, ist Palliativmedizinerin und ehrenamtlich Vorsitzende des Hospizdienstes Bergedorf.

Frau Stüven, wie stehen Sie als Ärztin zur Sterbehilfe?

Tötung auf Verlangen lehne ich kategorisch ab - als Ärztin und als bekennende Christin. Niemand darf sich zum Herrn über Leben und Tod machen. Auch wenn aktive Sterbehilfe eines Tages für uns Ärzte gesetzlich legal wäre, würde ich das nicht machen.

Sie erleben bei der Betreuung von Schwerstkranken großes Leid. Weshalb dürfen die Menschen nicht entscheiden, "Schluss" zu machen?

Das dürfen sie. Suizid ist keine Straftat. Aber die Verantwortung über sein Leben kann man nicht delegieren. Auch Sterbehelfer tragen mit ihrer Beihilfe eine Mitverantwortung. Dabei kann es zu Fehleinschätzungen und Fehlentscheidungen kommen. Wir haben in der Palliativmedizin sehr gute Möglichkeiten, Schmerzen zu lindern. Auch Depressionen lassen sich wirkungsvoll behandeln. Oft sehen vermeintlich ausweglose Situationen nach einiger Zeit ganz anders aus. Mangelnder Lebensmut ist durchaus umkehrbar - Suizid aber ist final.

Doch wenn Deutschland Sterbehilfe komplett verbietet, fahren Lebensmüde in die Schweiz oder nach Belgien.

Ja, durch den Sterbetourismus werden moralische Grenzen verschoben. Das darf aber nicht zu einem Dammbruch in Deutschland führen. Wir müssen das auf nationaler Ebene verantwortlich regeln. Ein Gesetz muss Menschen davor schützen, falsche Entscheidungen zu treffen. Die Schwelle für passive Sterbehilfe muss sehr, sehr hoch gehängt werden. Wichtig ist unabhängige Beratung und eine zeitliche Wartefrist, um Ad-hoc-Entscheidungen zu verhindern. Das Wesentliche aber: Keine Organisation darf am Tod anderer verdienen. Sterbehilfe und finanzielle Interessen vertragen sich nicht.

In dem in Hamburg angeklagten Fall ist zwei gesunden Frauen beim Selbstmord geholfen worden, sie hatten Angst vor dem Altwerden.

Lebensangst im Alter wird bei uns zunehmen. In anderen Gesellschaften sind die Alten hoch angesehen, stehen im Mittelpunkt und werden verehrt. Wir haben unsere Senioren zu wenig im Blick. Viele verspüren im Alter einen wachsenden Druck, der Gesellschaft und Angehörigen nur noch zur Last zu fallen - auch finanziell. Das ist eine Folge des Pflegenotstands. Betreuung im Alter muss würdevoll sein - "satt und sauber" reicht nicht. Solche Suizide sind ein Symptom gesellschaftlicher Fehlentwicklung. Insofern sind hochwertige und würdevolle Pflege und gute palliativmedizinische Betreuung der Schlüssel, um "Bilanzsuizide" zu verhindern.