Wahl am 25. Mai: Brüsseler Abgeordnete werben auf dem Podium auch für Europa-Politik

Europa - für die Glinder ist das weit mehr als nur ein politisches Konstrukt. Durch die Verschwisterung mit dem französischen Saint-Sébastien-sur-Loire vor 50 Jahren lebt die Stadt den europäischen Gedanken seit Generationen: Freundschaften sind entstanden, dieses Jahr gibt es den 50. Jugendaustausch, die Glinder haben das Boule-Spiel importiert, es gibt eine französische Kindergartengruppe, Freundschaftsturniere, gegenseitige Auftritte der Chöre und Theatergruppen. "Eigentlich sind alle Vereine beider Städte beteiligt", stellt Gerd Mucha, Vorsitzender der Europa-Union Glinde, fest.

Mit der Europa-Politik sieht es allerdings anders aus. "Für die Jugend ist eine gemeinsame Währung und das Fehlen von Grenzkontrollen so selbstverständlich, dass es schwer ist, sie für die Europawahl am 25. Mai oder die Vereinsarbeit zu interessieren", sagt Mucha. Dabei könnte die Europa-Union, die zurzeit etwa 120 Mitglieder hat, jungen Menschen beispielsweise mit Kontakten für Praktika im europäischen Ausland weiterhelfen.

Durch eine Befragung hat die Europa-Union Glinde festgestellt, dass viele nicht einmal ihre Abgeordneten in Brüssel kennen. Das sollte eine Podiumsdiskussion im Bürgerhaus am Freitag ändern: Ulrike Rodust (64, SPD), Britta Reimers (43, FDP) und Reimer Böge (62, CDU) sprachen über das Thema "Mitwirken am Europa der Bürger". Ex-Landesjustizminister Uwe Döring (SPD), Landesvorsitzender der Europa-Union, moderierte. Etwa 100 Bürger waren der Einladung gefolgt.

Sie ließen nicht locker, fragten auch nach heißen Eisen, wie der Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien und der hohen Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa. "Wir brauchen die Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften", entgegneten Rodust, Reimers und Böge unisono. Auf die Frage, ob man mit den Fachkräften und Azubis den ärmeren EU-Staaten nicht auch noch ihr übriges Potenzial entziehe, antwortete Reimers: "Die jungen Spanier beispielsweise hängen an ihrer Heimat. Nach der Ausbildung wollen sie helfen, die Wirtschaft dort wieder aufzubauen."

Böge betonte: "Das Konstrukt Europa braucht Zeit." So könne man von Ungarn und Rumänien hinsichtlich Demokratie und Korruption keine deutschen Standards erwarten. "Natürlich muss man die Missachtung der Pressefreiheit thematisieren", sagte Böge. "Man muss sie sogar ächten", forderte Rodust. Aber da waren sich die drei wieder einig, das Europäische Parlament habe nicht die Macht, sich direkt in die Gesellschaftspolitik der Mitgliedstaaten einzumischen. Böge räumte gar ein: "Selbst mit dem Lissaboner Vertrag, den ich für einen der besten europäischen überhaupt halte, kann das Parlament über die Bankenaufsicht nicht mit seiner Mehrheit entscheiden, sondern muss die Mitgliedsstaaten fragen." Da wünsche er sich mehr Kompetenzen. Deutschland wegen der Rettungspakete als "Zahlmeister" zu bezeichnen, lehnte Rodust wütend ab: "Die deutsche Wirtschaft hat durch die Exporte in die Krisenländer so viel Überschuss erzielt, dass man mal hinterfragen muss, wer an wen zahlt", sagte sie.

Nun tauchten doch die ersten Unterschiede zwischen den Parteien auf. Während Böge die Eurokrise als "Schuldenkrise" bezeichnete und Konsolidierung der Staatsschulden forderte, mahnte Rodust an, die südeuropäischen Länder "nicht kaputt zu sparen". Böge sieht keinen Bedarf, noch mehr Staaten ins europäische Haus zu holen. Rodust kann sich durchaus mehr Mitgliedsstaaten vorstellen, etwa die Aufnahme der Türkei in die EU: "Vielleicht nicht sofort, wohl aber in einigen Jahren - wenn sie die Kopenhagener Kriterien erfüllt."

Eine europäische Außenpolitik gebe es noch nicht. Nicht zuletzt deshalb forderten alle drei in Sachen Ukraine Zurückhaltung. Dass nur einen Tag später das Parlament Minister Viktor Janukowitsch absetzt, einen Übergangspräsidenten bestimmt und die Oppositionelle Julia Timoschenko aus dem Gefängnis frei kommt, ahnte niemand.