Interview: Die evangelische Gemeinde will ihren Wert innerhalb der Gesellschaft stärker herausstellen

Pastor Sören Neumann-Holbeck (43) bastelt zurzeit noch an einer Videoübertragung seines Weihnachtsgottesdienstes für die ganze Familie. Er weiß schon jetzt, die Plätze in der Kirche werden nicht reichen. Die Kirche ist zwar nicht immer so voll, denn deutschlandweit nimmt die Zahl der Christen eher ab. Doch Glinde zählt immerhin 6280 evangelische Gemeindeglieder, 2013 wurden in St. Johannes etwa 50 Kinder getauft. Die Gemeinde verjüngt sich gerade. Über die Zukunft der evangelischen Kirche in Glinde spricht der Pastor mit unserer Redakteurin Susanne Tamm.

bz:

Herr Neumann-Holbeck, Sie haben sich auf den Markt gestellt, um Adventskalender zugunsten der Jugendarbeit zu verkaufen. Müssen Sie jetzt schon mit Benefizaktionen Stellen der Kirche finanzieren?

Fundraising ist für uns schon lange ein Thema. Die halbe Stelle des Jugendmitarbeiters kann nur zur Hälfte - mit 10 000 Euro - aus Gemeindemitteln finanziert werden. Die Aktion ist übrigens sehr gut gelaufen, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Ich sehe sie auch als ein Stück Kommunikationsarbeit. Wir haben 976 Stück verkauft und können damit 3700 Euro für unsere Jugendarbeit einstreichen. Wir finanzieren sie auch über Dauerspenden, Kollekten und andere Aktionen. Ähnliches steht nun auch für die Außenanlagen der Kindergärten und für die Orgel an.

Wie aber kann der Verkauf von Adventskalendern Kommunikationsarbeit sein?

Weil wir auf dem Marktplatz mit den Menschen auch ins Gespräch gekommen sind: Von dem kleinen Aufreger, wie dreckige Schilder, die den Gottesdienst um 10 Uhr ankündigen, über Seelsorge-Gespräche über Erziehungsfragen, bis hin zu Depressionen und der Trauer um einen Menschen. Die Schwelle für eine Begegnung ist niedriger. Ich kann als Gemeinde nicht mehr nur sagen: "Kommt zu uns in die Kirche!" Kirche findet nicht nur unterm Turm statt. Und wenn es dabei nur um kurze Gespräche auf dem Marktplatz geht.

Die Kirchengemeinde muss mehr Präsenz zeigen?

Die Gesellschaft muss merken, dass Kirche nicht nur kostet, sondern auch einen Wert hat, der über reinen Nutzen hinausgeht. Diesen Wert erkennt sie aber nur, wenn wir Christen uns auch in den Alltag der Menschen einbringen. Welcher das sein kann, das muss sich jeder Sportverein oder jeder andere Verein überlegen. Für mich ist eine Kirchengemeinde da wie ein Weihnachtsstern: Sie soll in die Gesellschaft ausstrahlen.

Wie meinen Sie das?

Unsere Mitte - das, was uns antreibt - ist unser Glaube an Jesus Christus. Der Stern an sich, das sind die Menschen, die Insider, die dort hingehen. Die Strahlen müssen in die Gesellschaft hinausgehen. Das kann diakonisches Handeln sein, wie Arbeit in Kindergärten, unsere Besuchsgruppe im Togohof, unsere ehrenamtliche Beratung in sozialen Fragen und vieles mehr.

Muss Kirche auch politisch werden? Als es um die afrikanischen Flüchtlinge ging, hat man von den Christen nicht so viel gehört.

Was in Hamburg die Kirchen gemacht haben, hat hier in Glinde die islamische Gemeinde angepackt. Unterstützt wurde sie von der Bürgerinitiative gegen rechts. Die St. Johannes Gemeinde hat sich in dieser Frage zurückgehalten, da ein Kirchenasyl in den 90er-Jahren die Gemeinde fast entzweit hätte. Deshalb agieren wir jetzt vorsichtiger und eher hinter den Kulissen.

Selbstverständlich sind wir eindeutig gegen rechts. Wir schützen die Schwachen und nehmen Fremde gastfreundlich auf. Das gehört zu unserem Auftrag.

Ist die Finanzierung über Kirchensteuern denn noch zeitgemäß, wenn Sie immer weniger Mitglieder haben? Die Islamische Gemeinde beispielsweise finanziert sich über Mitgliederbeiträge.

Diese Frage ist legitim. Aber in erster Linie für unsere Mitglieder; denn nur sie zahlen diese Kirchensteuern. Mein Ziel ist allerdings, dass die Menschen nicht mehr nach Kosten oder Nutzen fragen, weil sie sehen, dass wir einen Wert in der Gemeinschaft haben. In vielen Dingen unterscheiden wir uns nicht von anderen Gruppen. Aber als Kirche sind wir oft immer noch die erste Anlaufstelle als Mediatoren und auch als Seelsorger, wenn es um die Ränder des Lebens geht: Geburt oder Tod. Ich hoffe, dass Menschen in Not bei uns klingeln.

Klar ist aber auch, dass wir künftig weiter Spenden brauchen. In 30 Jahren haben wir nur noch die Hälfte der Gemeindeglieder. Ich hoffe, wir sind dann soweit, dass die Stadt, wenn wir nach Räumen fragen, sagt: Ja klar, Ihr macht doch gute Arbeit.

Vielen Dank für das Gespräch.