Autismus: Marlies Siefken betreut die jungen Stormarner mit dieser Wahrnehmungsstörung

Er nimmt Worte ihrem Sinn nach. Er versteht weder Ironie noch Sarkasmus. Metaphern sind ihm unverständlich und Gefühle sind ihm fremd. Dafür hat er vielleicht aber ein ganz besonderes Talent für die Mathematik oder die Musik. Für etwa eine Million Menschen in Deutschland steht die Diagnose für die tief greifende Beeinträchtigung der Wahrnehmungs- und Kommunikationsfähigkeit des Gehirns fest. Sie ist als Behinderung anerkannt. In Schleswig-Holstein sind etwa 1300 Schüler betroffen und in Stormarn etwa 100. Für sie ist die Barsbüttelerin Marlies Siefken gemeinsam mit zwei Kolleginnen von der Beratungsstelle Autismus des Institutes für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein (iqsh) zuständig.

Die Sonderpädagogin unterstützt bereits ab dem Verdacht auf Autismus, der zumeist im Vor- und Grundschulalter geäußert wird, die Eltern, die Schulen, Lehrer und nicht zuletzt die betroffenen Kinder. Sie gibt Fortbildungen, berät und begleitet die Kinder von der Kita bis zum Abitur oder durch die Berufsschule. Manchmal nimmt sie am Unterricht teil - auch als Maklerin zwischen Lehrern, Mitschülern und Autisten. "Es ist eine besondere Herausforderung für Lehrer, mit Autisten umzugehen", sagt sie verständnisvoll. Oft verstünden diese Kinder die Botschaft der Lehrer nicht, was zu Missverständnissen führe. Wenn die Informationsflut zu groß werde, zögen sie sich in sich - im Grundschulbereich manchmal auch tatsächlich körperlich in einen Schrank - zurück, um Ruhe zu finden. "Das ist auch für Klassenkameraden nicht leicht zu verstehen", weiß sie. Durch einen verständigen Umgang mit diesen Schülern kann ihnen der Schulalltag sehr erleichtert werden, und ihre Stärken treten in den Vordergrund.

Marlies Siefken sorgt zudem dafür, dass die Kinder und Jugendlichen einen Nachteilsausgleich bekommen. Das bedeutet, dass die Aufgaben, die ihnen gestellt werden, zwar den vergleichbaren Leistungsstand abfragen, aber anders gestellt werden. So kann jemand, der sich nicht in andere Menschen hineinversetzen kann, eben keine Interpretation schreiben, wohl aber einen Sachaufsatz mit gleichem Anspruch.

Bevor die Schullaufbahn jedoch so weit fortgeschritten ist, gilt es für die Eltern und Kinder viele Hindernisse zu überwinden: "Habe ich ein Gespräch mit Eltern, für deren Kind der Verdacht auf Autismus ausgesprochen ist, muss ich mir viel Zeit nehmen und Taschentücher mitbringen", sagt sie. "Es ist einerseits schwer zu akzeptieren, dass das Kind eine solche Beeinträchtigung hat. Andererseits kann es auch eine Erleichterung sein, einen Namen für die Besonderheiten des Kindes zu haben." Angehörige von Autisten hätten es sehr schwer und würden manchmal schlecht von Menschen der nahen Umgebung behandelt - von Nachbarn, Verwandten und auch von Institutionen. "Niemand kann sich vorstellen, dass einer keine Gefühle hat, nicht kommunizieren und sich überhaupt nicht in sein Gegenüber hineinversetzen kann", betont sie.

Mit der Diagnose "Autismus" des Kinderpsychiaters könnten Eltern schon eher erläutern, warum das Kind die Nachbarn eben nicht grüße. "Mit Intelligenz, an der es nur sehr selten mangelt, können die Kinder aber vieles lernen - zu kommunizieren und auch Gefühle einzuordnen. Zum Beispiel, dass "Wasser aus den Augen läuft", wenn sich jemand wehgetan hat oder traurig ist. Dass nach oben zeigende Mundwinkel eher positiv zu werten sind als nach unten weisende", sagt die Expertin.

In speziellen Therapien werde der Umgang mit anderen gelernt. Das werde aber wohl nie für einen Small Talk reichen. "Das ist Autisten nicht wichtig genug. Dafür können sie stundenlang über ihre Spezialthemen sprechen. Sie sind zuverlässig, genial, können nicht lügen, machen ungern Pausen, leiden nicht unter Einsamkeit, wissen aber auch nicht, wie man Freunde gewinnt oder tröstet", beschreibt Marlies Siefken.

Sie ist froh, dass der Arbeitsmarkt Autisten mittlerweile Chancen gebe. Wenn aus kleinen Mathe-Genies große IT-Spezialisten werden, sind sie gefragt. Nicht umsonst seien viele Autisten in "Silicon Valley" zu finden, einem der bedeutendsten Standorte der IT- und Hightech-Industrie. Übrigens wird Albert Einstein nachgesagt, Autist gewesen zu sein.