Jersbek. Öko- und Wirtschaftssysteme im Gleichgewicht? Dies sei ein schöner, aber unerreichbarer Traum, sagt Bernhard Weßling. Der Chemiker, der im Jersbeker Ortsteil Klein Hansdorf wohnt, hat ein wissenschaftliches Buch über Zufälle geschrieben. Er erläutert auch, warum das Nichtgleichgewicht das Leben erst lebenswert macht. „Was für ein Zufall“ richtet sich vor allem an Menschen, die sich für wissenschaftliche Phänomene in der Natur und unserer Welt interessieren.
Wenn Bernhard Weßling ein Thema anpackt, dann so richtig. Wie vor zwei Jahren, als der Hobby-Ornithologe der Kranichforschung sein Autorendebüt gewidmet und eine Technik entwickelt hat, um die Rufe der Vögel zu entschlüsseln. Damit konnte er ein weltweit einzigartiges Auswilderungsprojekt unterstützen.
Alles funktioniert nur durch die Zufuhr von Energie
Sein neues Buch basiert auf eigenen Grundlagenforschungen, die ihren Anfang in den 1980er-Jahren im ehemaligen Ahrensburger Unternehmen Zipperling Kessler & Co nahmen, wo Weßling Geschäftsführer war. Es geht dabei um leitfähige Polymere, also Kunststoffe mit einer elektrischen Leitfähigkeit, die vergleichbar mit Metallen ist. „13 Jahre habe ich in China gelebt, um das hochkomplexe Produktionsverfahren zu modifizieren, das vor allem für Platinen benötigt wird“, sagt der Unternehmer. „Bei der Erforschung der Stoffe ist mein Verständnis darüber gewachsen, dass die ganze Welt im Nichtgleichgewicht ist.“
Es gehe um grundlegende Gesetzbarkeiten der Thermodynamik, heruntergebrochen auf kleine Systeme wie unseren Körper oder auch Fußballspiele, die niemals im echten Gleichgewicht sein könnten. Denn dies sei nur bei völligem Stillstand möglich, gleichbedeutend mit Verfall und Tod und im Universum nur bei den Schwarzen Löchern zu finden. „Alles um uns herum funktioniert nur, weil wir Energie hineinpumpen“, sagt der 70-Jährige. „Dies ist die Kernbotschaft. Das Leben wird eben erst interessant, weil etwas Unvorhersehbares passiert.“
Weßling sieht Zufall als etwas Gutes und Normales an
Sieben Jahre habe er mit Unterbrechungen am Buch gearbeitet, denn Weßling ist gleichzeitig Investor und Geschäftsführer beim Kattendorfer Hof, einem Demeterbetrieb in Schleswig-Holstein. In der Freizeit taucht er mit Leidenschaft – 600 Tauchgänge in 15 Jahren stehen auf seinem Konto – und spielt Fußball, ebenfalls mit vollem Einsatz. Das Buch habe er in erster Linie für die Enkelgeneration geschrieben, auch für die sieben eigenen. Im Unterschied zu älteren Menschen seien die jungen gedanklich nicht so festgefahren. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Änderungen einer grundsätzlichen Anschauung irrsinnig schwer sind“, so Weßling. „Und viele Menschen sind eben noch immer in der Gleichgewichtsvorstellung verhaftet, die erst über Generationen aufgebrochen werden kann.“
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Aber ist es nicht nur Wortklauberei, den Wunsch nach mehr Gleichheit und Gerechtigkeit in der Welt wissenschaftlich zu zerreißen? Nein, sagt Bernhard Weßling. Es gehe vielmehr um eine kollektive Vorstellung und darum, dass Zufall eben etwas Normales und Gutes sein sollte.
Mentale Stärke durch Akzeptieren der Situation erlangen
Weßling betont, dass Nichtgleichgewicht keineswegs mit Instabilität gleichzusetzen sei, Stabilität aber nur unter fragilen Bedingungen erreicht werden könne. „Erst wenn wir uns nicht ständig über Dinge beklagen, die um uns herum passieren, erlangen wir mentale Stärke“, sagt der Autor. „Nur so bekommen wir ein Bewusstsein dafür, nicht ständig jemanden für die Unvorhersehbarkeit der Dinge verantwortlich machen zu müssen – auch nicht uns selbst.“
Erfolg oder Misserfolg hingen eben oft nicht mit dem eigenen Zutun zusammen. Dies zu erkennen habe ihm geholfen, Rückschläge besser zu akzeptieren. Gerade in Räumen ohne innere Kontrolle entstünden manchmal die größten Kunstwerke wie Paul McCartneys „Yesterday“, dem die Melodie für das Lied im Traum gekommen sein soll.
Zuletzt steht Erkenntnis, nicht alles kontrollieren zu können
Er argumentiere nicht gegen den Glauben oder esoterische Strömungen, sondern klar für die Wissenschaft, so Weßling. Eine Haltung, die ihm auch in anderen Lebensbereichen geholfen habe. „In Gebieten, in denen wir keine Fachleute sind wie bei Fragen rund um die Corona-Pandemie, sollten wir der Wissenschaft vertrauen und vorsichtig mit eigenen Urteilen sein“, sagt er.
Blindes Vertrauen sei dies nicht, vielmehr die Erkenntnis, eben nicht alles im Griff haben zu können. Oder zu müssen. „Wir sollten abwägen, was wir im Leben verändern können, und anderen Dingen, die sich unserem Einfluss entziehen, einfach ihren Lauf lassen“, sagt Bernhard Weßling. „Nur so lernen wir, entspannter auf die Welt und unser Leben zu schauen.“
Einführung per Video
Auf der Autoren-Homepage bernhard-wessling.com gibt es weitere inhaltliche Informationen zum Buch. Auf Anfrage bietet Weßling Vorträge und Diskussionen in Schulen an. Eine Kurzeinführung ins Buch hat der Autor auf seinem YouTube-Kanal bereitgestellt. Das Video kann unter folgendem Link aufgerufen werden: www.youtube.com/watch?v=ve_OIqEbjUQ. Das Buch „Was für ein Zufall“ ist im Springer Vieweg Verlag erschienen: ISBN 3658377542, Preis 27,99 Euro, E-Book 19,99 Euro.
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