Ahrensburg. „Das Grundgesetz gilt nicht nur für Menschen bis 65 Jahre.“ Das sagt der ehemalige SPD-Chef und frühere Vizekanzler Franz Müntefering. Und weiter: „Solange der Kopf klar ist, ist jeder mitverantwortlich für das, was passiert.“ Derart trockene, leicht zugespitzte Aussagen sind typisch für den 79-Jährigen. Diese beziehen sich auf den Inhalt seines neuen Buchs mit dem Titel „Unterwegs. Älterwerden in dieser Zeit“. An diesem Dienstag, 1. Oktober (20 Uhr), stellt Müntefering das Werk im Kulturzentrum Marstall in Ahrensburg vor. Wer ihn live erleben will, hat gute Chancen: Es gibt noch Karten für die Lesung.
In seinem Buch macht Müntefering Mut, zeigt auf, wie man als Senior sein Leben gestalten und gesellschaftliche Verantwortung und Initiative ergreifen kann. Er thematisiert die mit mit dieser Lebensphase verbundenen Veränderungen ebenso wie deren Chancen. Zugleich gestattet das SPD-Urgestein, das Herbert Wehner noch gekannt und Willy Brandt die Hand geschüttelt hat, einen Einblick in sein ereignisreiches Leben. Mit 26 Jahren trat er in die Partei ein, war bis 2013 Mitglied des Bundestags.
Digitalisierung ist besondere Herausforderung für ältere Menschen
Der Aussage „Alter ist nichts für Feiglinge“ kann Franz Müntefering nur bedingt zustimmen: „Ich halte das ein bisschen mit Augenzwinkern für eine Quatschbotschaft.“ Die meisten wollten ja älter werden, dazu zähle er auch sich selbst. Die Zeit, die Rentner jenseits des Berufslebens hätten, werde immer länger. Es sei vernünftig, die Lebensgestaltung auf die sich veränderten Familien- und Altersstrukturen abzustimmen. Er empfehle, sich bereits in jüngeren Jahren mit den Menschen, „die einem besonders wichtig sind“, darüber zu unterhalten. Zu den besonderen Herausforderungen unserer Zeit für alte Menschen zähle die Digitalisierung. „Im Umgang damit gibt es ein großes Gefälle, die junge Generation wächst automatisch hinein.“
Die rasante Entwicklung der neuen Technik vergleicht der Politiker mit jener der 50er- und 60er-Jahre. Als die jungen Leute damals aus den Dörfern in die Städte gezogen seien, hätten sie den Eltern oft ein Telefon geschenkt. So auch bei Münteferings. „Meine Eltern hatten vorher gar keinen Bedarf daran“, sagt er. Doch dann hätten sie entdeckt, wie nützlich der Apparat sei, „da können wir doch mal gelegentlich miteinander sprechen“, erinnert sich Müntefering an die Reaktion. Auch heute lägen die Vorteile für Ältere beispielsweise in neuen Wegen, soziale Kontakte zu halten, und dem Zugang zu Infos und Wissen im Netz.
Buch auf Olympia-Schreibmaschine getippt
Von Plattformen wie Facebook, Twitter und Instagram hält der SPD-Mann wenig: „Viele Leute schmeißen alles, was ihnen gerade einfällt, sozusagen allen anderen vor die Tür zum Gucken.“ Diese Neigung habe exhibitionistische Züge. „Ich möchte mit solchen etwas provokativen Aussagen eine Diskussion auslösen darüber, wie viel Zeit damit vertan wird.“ Er selbst nutze Handy, schreibe SMS. „In Sachen soziale Medien nutze ich die Gnade der frühen Geburt. Niemand muss mir mitteilen, wo er gerade einkauft oder was er gesehen hat.“ Sein Leben sei auch so ausgefüllt.
Das Buch hat er allerdings auf seiner alten Olympia-Schreibmaschine getippt, auf 920 Seiten. „Auf dem Computer kann man zwar schneller tippen, aber es fällt mir trotzdem nicht schneller ein.“ Für seine fünf Enkel sei die Schreibmaschine „ein bisschen ein Wunderding“ aus einer vergangenen Welt. „Ich bin ganz froh, wenn sie noch ein Buch in die Hand nehmen, das lesen und daran Spaß haben.“
Nicht zu stolz sein, Hilfe anzunehmen
Die Frage, ob er nach dem zeitraubenden, stressigen Job als Ruheständler in ein tiefes Loch gefallen sei, beantwortet er mit einem klaren Nein. Er habe sich schon vor seinem Ausscheiden mit demografischen Fragen beschäftigt und danach Kontakte geknüpft, um das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. Als Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (Bagso) und Präsident des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) widmet er sich der Frage, wie der Wandel gestaltet werden kann. Die Bagso biete beispielsweise einen Seniorenservice: Ältere Ingenieure oder Techniker helfen mit ihrem Know-how, alte Maschinen in Betrieb zu halten. „Die Alten haben noch das Wissen, das den Jungen dafür fehlt.“ Umgekehrt gebe es auch viel, was Ältere von Jüngeren lernen könnten. „Die Jüngeren müssen da nicht großkotzig und die Älteren nicht zu stolz sein.“
Auch nicht zu stolz, Hilfe anzunehmen. „Dass Menschen sich helfen und man sich helfen lässt, ist normal. Die Wahrheit ist: Wir sind abhängig voneinander, jeden Tag.“ Wir müssten uns aber auch um uns selbst kümmern, unsere Möglichkeiten nutzen, neugierig und offen bleiben und die Solidarität pflegen. Wie in der Hospizbewegung, die sich um einsame und sterbende Menschen kümmere, sie nicht allein lasse. Wenn es auf das Lebensende zugehe, sei Begleitung wichtig. Müntefering spricht aus eigener Erfahrung, hat seine schwer erkrankte zweite Frau bis an ihr Lebensende begleitet, war bei seiner Mutter, als sie starb. „Das ist nicht leicht, aber für alle Beteiligten ganz wichtig.“ Hat er Angst vor dem Tod? Nein, sagt er, aber er sei „dagegen, nicht aufstehen zu können“.
Ob seine Partei für die Gesellschaft zu alt geworden sei, beantwortet er so: „Nein, aber die Gesellschaft verändert sich und das müssen jetzt auch die Parteien tun. Wir haben aber eine Chance, uns aus dem Tief herauszubuddeln, da bin ich ganz sicher.“
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