Gemüseanbau

„Die Qualität unseres Essens fängt bei der Züchtung an“

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Lutz Wendler
Christina Henatsch mit ukrainischen Gräsern, die in einem Zuchtexperiment als Getreidepflanze entwickelt werden sollen

Christina Henatsch mit ukrainischen Gräsern, die in einem Zuchtexperiment als Getreidepflanze entwickelt werden sollen

Foto: Lutz Wendler / HA

Christina Henatsch entwickelt seit 15 Jahren Gemüsesorten auf Gut Wulfsdorf in Ahrensburg. Am Sonntag stellt sie ihre Arbeit vor.

Ahrensburg.  Die Schatzkammer, die Christina Henatsch angekündigt hat, ist ein kleiner unscheinbarer Raum, in dem Regale stehen, die mit handschriftlich etikettierten grünen Plastikkisten gut gefüllt sind. Was auf den ersten Blick wie ein normales Lager wirkt, birgt tatsächlich großen Reichtum, nämlich die (potenziellen) Früchte von Jahren harter, geduldiger und systematischer Arbeit – und das Beste daran: Hier wird ein Schatz aufbewahrt, von dem viele Menschen profitieren und über den Besucher an diesem Sonntag bei einem Tag der offenen Tür in der Forschungshalle in der Allmende Wulfsdorf einiges lernen können.

Christina Henatsch bewahrt in der Kammer das Züchtungssaatgut auf, das sie in 15 Jahren auf Gut Wulfsdorf entwickelt hat. Samen von gut einem Dutzend Gemüsen, jedes davon in zahlreichen verschiedenen Sorten. Einige davon sind Eigenzüchtungen, die Marktreife erreicht haben und beim Bundessortenamt mit Namen wie „Lucinde“ (Kopfsalat), „Philomene“ (Lauch), als „Pirol“ und „Roscho“ (beides Mangold-Sorten) registriert sind.

Biologisch-dynamisch muss sich im Praxistest bewähren

Andere sind Erhaltungszüchtungen, mit denen der Standard von Sorten bewahrt wird. Und dann gibt es die vielen, die sich erst noch bewähren müssen. Christina Henatsch zeigt auf zwei Kisten auf dem Fußboden, in denen dicht gedrängt beschriftete Papiertütchen stehen. „Das sind neue Sorten, die ich zur Erprobung an Kollegen schicke und nach deren Zustimmung an Betriebe weitergebe, die sie im Erwerbsbau testen“, sagt sie. „Es ist entscheidend, eine gute Rückmeldung aus der Praxis zu bekommen. Nur wenn die Sorte gewollt wird, kann sie sich auf dem Markt behaupten.“

Die Kollegen sind die etwa 30 Züchter in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden, die zum 1994 gegründeten, durch Spenden finanzierten Verein Kultursaat gehören. „Ein weltweit einzigartiges Netzwerk, das Gemüsesorten nach biologisch-dynamischen Prinzipien so weiterentwickelt, dass sie für die kommerzielle Nutzung geeignet sind.“ Das Ganze ist eine organische Entwicklung im Rhythmus der Natur, die entsprechend Zeit braucht. Henatsch erzählt, dass die Entwicklung einer neuen Sorte, die allen Qualitätskriterien genügen soll, über zehn Generationen reichen kann, was bei Pflanzen wie Möhren oder Lauch mit einer zweijährigen Vegetationszeit also bis zu 20 Jahre dauert.

Zucht als „positive Selektion“

Die Zucht ist für Henatsch „positive Selektion“. Was das praktisch bedeutet, ist am Küchentisch der Forschungshalle zu schmecken. Dort steht ein Sammelsurium von 40 nummerierten Porzellanschälchen. Jede Schale enthält Stückchen eines gelben Gemüses, das Christina Henatsch und ihre aktuellen Azubis Lena und Alena verkosten – beide absolvieren hier eine Station ihrer praxisnahen sogenannten freien Ausbildung in Demeter-Betrieben.

„Das hier ist der zweite Teil des heutigen Geschmackstests mit einem gelben Mangold“, sagt die 24 Jahre alte Lena. Und sie erzählt, dass 80 bis 100 der schönsten Bestände auf dem Feld ausgewählt, einzeln gekocht und nun im Vergleich probiert werden. Christina Henatsch führt eine Liste, die darüber entscheidet, welche man blühen lässt und weiter untersucht. Die Erfolgsquote ist hoch. „Von 40 getesteten Proben haben wir nur sechs direkt ausgeschlossen – als ich vor 15 Jahren hier begann, waren nur drei von 40 Mangold-Pflanzen überhaupt genießbar“, sagt sie.

Kulturpflanzen als Abbild der menschlichen Entwicklung

Die Geschmacksprobe macht deutlich, wie wichtig das menschliche Maß für die Weiterentwicklung einer Kulturpflanze ist – im Selbstversuch wird sie sich im wahrsten Sinne des Wortes einverleibt und auf Geschmack und Bekömmlichkeit getestet. Henatsch beschreibt die wesentlichen Qualitätskriterien im gesamten Selektionsprozess: „Die Pflanze wächst gut, sie sieht schön aus, ist lecker, gesund und, wichtig für Gartenbaubetriebe, unkompliziert zu ernten.“ Sie ergänzt: „Die Qualität unseres Essens fängt bei der Züchtung an.“

Wie wichtig Erhalt und Fortentwicklung bewährter Sorten sei, zeige der technologische Fortschritt, der zunehmend Hybridsorten hervorbringe. Christina Henatsch findet brachiale Methoden wie die Kreuzung unterschiedlicher Pflanzen im Labor, von Gentechnik gar nicht zu reden, erschreckend. „Hybridlinien sind Einwegprodukte, sie haben keine Zukunft. Die Sorten entwickeln sich nicht weiter.“ Bedenklich sei, dass aus diesen Pflanzen kein neues Saatgut gewonnen werden kann. „Kulturpflanzen sind Begleiter des Menschen seit mehr als 3000 Jahren. Sie sind ein Abbild der menschlichen Entwicklung.“

Gemüseanbau ist für Henatsch kein Geschäft

Wie wichtig die immer neue Kultivierung von Pflanzen und das Bewahren ihrer Qualitäten sei, könne man auch daran ablesen, dass Menschen zunehmend an Unverträglichkeiten und Mangelerscheinungen litten. Es sei also wichtig, dass Gemüse nährstoffreich sei, also zum Beispiel Mineralstoffe und antioxidative Flavonoide enthalte.

Was Vielfalt ist, zeigt Christina Henatsch auf einem Feld des Gutes. Mangoldsorten mit verschiedenen Farbcharakteristika wachsen neben üppigen gelben, grünen und gestreiften Zucchini. Im nahen Gewächshaus blühen Porree und Möhren und werden von Hummeln bestäubt. Brokkoli wächst und blüht sortenrein in einem Tunnelnetz mit Fliegen zum Bestäuben, und die sehr unterschiedliche Entwicklung von Tomatenpflanzen – Sorte Paula – zeigt, dass die Selektion hier noch viel mehr als die aktuelle vierte Generation brauchen wird.

Für Christina Henatsch ist Gemüseanbau kein Geschäft, sondern Teil einer ganzheitlichen Betrachtungsweise von Natur und Kultur des Menschen. In diesem Sinne zitiert sie Friedrich Schiller: „Suchst du das Höchste, das Größte?/Die Pflanze kann es dich lehren./Was sie willenlos ist, sei du es wollend/ – das ist’s!“

Seit 15 Jahren betreibt Christina Henatsch die Kulturpflanzenentwicklung in Wulfsdorf.
In der Forschungshalle
der Allmende Wulfsdorf (Bornkampsweg 38) informiert sie Sonntag, 16. Juli, von 15 bis 18 Uhr über ihre Arbeit in den vergangenen 15 Jahren. Es gibt Tee, Kaffee und Kuchen und einen Rundgang zum Feld und zu den Gewächshäusern.

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