Ahrensburg. Einen festen Fahrplan fürs Leben gibt es nicht. Carsten hätte sonst vielleicht eine andere Abzweigung genommen. Er wäre dort noch ein Stückchen weitergefahren, hätte früher gewendet und am Kreisverkehr die richtige Abfahrt erwischt. Doch Carsten wurde aus der Spur geworfen. Der gelernte Stahlbauschlosser verlor zuerst seinen Job, dann seine Wohnung in Ahrensburg. Zu seinen Eltern hatte er zu dieser Zeit keinen Kontakt, auch Freunde konnten ihm nicht helfen.
„Ich sah mich schon unter der Brücke schlafen“, sagt Carsten. Dort landen viele, denen es so geht wie ihm. Doch der gebürtige Hamburger wurde nicht obdachlos. In Ahrensburg hat er ein Zuhause gefunden. Er wohnt nur einen Steinwurf entfernt vom Schloss, in einer der 20 Gottesbuden, die in zwei Reihen angeordnet die Schlosskirche flankieren. Die 16 Quadratmeter großen Einzelzimmer mit kleiner Küchenzeile und Toilette gelten als Notunterkunft für Menschen.
15 Menschen hat das Schicksal hierher verschlagen
Entstanden sind die beiden weißgetünchten Häuserreihen 1596. Damals ließ Peter Graf Rantzau die Gottesbuden bauen, um die Bedürftigen und Alten seines Schlosses unterbringen zu können. Bis heute und auch künftig sollen die Kulturdenkmale sozialen Zwecken dienen. Carsten lebt hier seit 2001. „Dass ich so lange hierbleibe, war eigentlich nicht mein Plan“, sagt der 46-Jährige. Da ist er wieder, der Plan, den es doch eigentlich gar nicht gibt. Genauso wenig haben die anderen 15 Bewohner der Buden einen gemeinsamen Hauptgrund, der sie hierher verschlagen hat. Hinter jeder Holztür ist ein eigenes Schicksal verborgen.
Niemand weiß das besser als Werner Astemer. Der gebürtige Frankfurter hat 1974 als Küster in der Schlosskirche angefangen, viele Jahre dort gearbeitet und könnte heute mit seinen 72 Jahren schon längst in Rente sein. Ist er aber nicht. An zwei Tagen in der Woche und während dessen Urlaub unterstützt und vertritt er Siegfried Baltissen, seinen Nachfolger im Küsteramt. Astemer macht Führungen und ist Ansprechpartner in Sachen Gottesbuden. „Ich bin da so reingerutscht“, sagt Astemer. Er fühlt sich nach wie vor sehr verbunden mit der Gemeinde. „Vor allem schätzen ihn die Bewohner der Gottesbuden sehr“, sagt die Pastorin der Ahrensburger Schlosskirche, Angelika Weißmann. Sie selbst habe auch guten Kontakt zu den Leuten. „Doch Herr Astemer findet immer einen besonderen Draht zu ihnen.“ Vielleicht liegt das auch daran, dass derzeit nur eine Frau und sonst nur Männer in den Buden leben. Die sind zwischen 40 und 60 Jahren alt.
Werner kommt sofort vorbei, wenn Not am Mann ist
„Der bisher jüngste war 19“, erinnert sich Werner Astemer. „Er ist zu Hause rausgeflogen und saß plötzlich auf der Straße. Während seiner Zeit hier hat er sich berappelt. Nach sechs Wochen haben wir eine WG für ihn gefunden. Jetzt hat er sogar einen festen Job.“ Werner Astemer, der Ahrensburger mit dem hessischen Dialekt, sieht sich nicht als Betreuer. „Dieser Begriff nimmt den Bewohnern jegliche Eigenständigkeit.“ Jeder sei für sein Zuhause selbst verantwortlich. Doch natürlich kommt Werner, wie ihn alle nennen, sofort vorbei, wenn Not am Mann ist. Wenn der Herd nicht funktioniert oder die Jalousie klemmt. Aber eben auch, wenn jemand reden will. Oder nicht allein schweigen.
Obwohl Astemer immer freundlich ist, ist es nicht sein Ziel, zu jedem Budenbewohner eine Freundschaft aufzubauen. „Dann fehlt die nötige Distanz in heiklen Situationen, in denen ich auch mal konsequenter auftreten muss.“ Wenn es nachts zu laut wird beispielsweise. Oder wenn sich im winzigen Vorgarten Müll und Unkraut anhäufen. „Im Unterschied zu früher ist es aber ruhiger geworden“, sagt Astemer. Da hätten sie öfter mal die Polizei rufen müssen, weil sich angetrunkene Bewohner in der Wolle hatten. Alkohol spielt aber auch heute noch eine Rolle. „Das bringen die Schicksale der Bewohner eben mit sich“, sagt der 72-Jährige.
Pastorin Weißmann erzählt von Anrufen besorgter, meistens aber entrüsteter Ahrensburger. Der Wortlaut: „Da sitzt einer am Rondeel und säuft. Der wohnt doch bei euch. Kümmert euch mal!“ Das sei aber nicht die Aufgabe, die sie erfüllen wollen und sollen. „Wir sind keine Trinkerheilanstalt“, sagt Weißmann. „Wir geben den Menschen ein geschütztes Zuhause und ebnen ihnen den Weg zurück in ein geregeltes Leben.“ Manches Mal sind das auch nur Kleinigkeiten. Einem älteren alleinstehenden Herrn, der keine Rente mehr bekam, halfen sie gemeinsam durch den Behördendschungel. Er bekam wieder das ihm zustehende Geld und konnte aus der Gottesbude nach kurzer Zeit wieder in eine eigene Wohnung ziehen.
Wer in einer Gottesbude lebt, zahlt 180 Euro im Monat, inklusive Heizung und Wasser. Strom kostet extra. In der sogenannten Mittagsbude gibt es für einen Euro täglich eine warme Mahlzeit mit Nachtisch. Ehrenamtliche wechseln sich dort mit der Arbeit ab. „Mittagsbuden-Chef“ Uwe Knackstedt will sein Alter nicht verraten, aber die 70 hat er sicherlich weit überschritten. Der Pensionär bringt auch regelmäßig Spenden in Form von Essbarem mit. „Die Gottesbuden sind ein wichtiger Teil von Ahrensburg. Und deswegen helfe ich hier sehr gerne“, so Knackstedt. Und das seit 17 Jahren. Carsten will bald wieder allein wohnen. „Eine richtige Wohnung, ein fester Job. Das wünsche ich mir“, sagt er. „Aber dafür muss ich erst wieder ganz gesund werden.“ Carsten geht regelmäßig zum Arzt. Den haben ihm die „Gottesbuden-Leute“ vermittelt, und dafür ist er dankbar. Werner Astemer und die anderen haben ihn wieder auf die richtige Spur gebracht. Und solange er sie braucht, werden sie ihn auf seinem Weg begleiten.
Das Angebot der Gottesbuden ist ausschließlich an Ahrensburger gerichtet. Im Moment sind alle Buden bewohnt, ein Zimmer dient als Notunterkunft für akute Fälle. Vermittlung über den Fachdienst Soziale Hilfen im Rathaus Ahrensburg. Kontakt zur Kirchengemeinde der Schlosskirche: Telefon 04102/47 15 34 und kirchenbuero@kirche-ahrensburg.de
Mehr Artikel aus dieser Rubrik gibt's hier: Stormarn