Wie ein Jugendlicher aus Afghanistan nach jahrelanger Flucht in Bad Oldesloe ein Zuhause fand und am Ende die Härtefallkommission überzeugte

Bad Oldesloe. Jan läuft mit flinken Schritten hoch in den ersten Stock. Die Linoleumtreppe unter seinen Füßen ist grau, die hölzernen Handläufe sind abgegriffen. Er ist hier oft hochgegangen zu seiner Wohngruppe, und von Zeit zu Zeit macht er es immer noch. Im Kinder- und Jugendhaus St. Josef, diesem Backsteinaltbau am Wendum in Bad Oldesloe, hat der 19-Jährige zwei Jahre gelebt. Und auch wenn er inzwischen viel Zeit bei seiner Pflegemutter Diana Djordjevic in Lübeck verbringt: Das Kinderheim ist irgendwie ein Stück weit sein Zuhause geworden. Jan strahlt. Hier fühlt er sich wohl.

Es ist ein langer Weg gewesen bis dahin, für den damals 14-jährigen Jan Yousef Hashem hat er vor fünf Jahren in seiner afghanischen Heimat begonnen. Vorläufiges Ende: eine Aufenthaltserlaubnis von der Härtefallkommission des Landes Schleswig-Holstein, gültig für zunächst drei Jahre. „Jetzt beginnt meine Zukunft“, sagt Jan und strahlt.

Jan spricht fließend Deutsch, er hat die Hauptschule als Klassenbester abgeschlossen, er wird im Sommer die mittlere Reife haben, er engagiert sich in vielfacher Weise ehrenamtlich. Eine Erfolgsgeschichte, die dem Jungen aus Afghanistan fast zum Verhängnis geworden wäre. Als sein Asylantrag abgelehnt wird, bleibt Jan nur der Gang vors Verwaltungsgericht in Schleswig. „Der Richter hat zu mir gesagt, dass ich das, was ich hier alles gemacht habe, noch viel besser in meiner Heimat machen könnte“, sagt Jan und schüttelt den Kopf. „Als wüsste er nicht, wie die Situation in Afghanistan gerade ist.“ Der Härtefallantrag ist seine letzte Chance gewesen und seine Rettung.

Jan erzählt, was er bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hat. Seine Reise beginnt in der Provinz Kunduz. Über das, was zuvor in seiner Heimat vorgefallen ist, spricht er nicht. Das ist Vergangenheit für ihn. Das Einzige, was er sagt: Eine Familie in Afghanistan gebe es nicht mehr. Woher das Geld für die Menschen gekommen ist, denen er in den folgenden drei Monaten ausgeliefert ist, weiß er nicht. Die Flucht ist kompliziert. Mit dem Auto, mit dem Bus, auf einem Schiff aber auch zu Fuß ist er unterwegs. Drei Monate später erreicht er Oslo. Er ist ein Illegaler. Das beherrschende Gefühl: Angst. Oft hat er Hunger. Die Personen, denen er folgt – sogenannte Schlepper – kennt er nicht. „Aber in einem Land, in dem du nichts kennst, musst du solchen Personen folgen.“

In Oslo sagt der Schlepper dann, sie sollen sich bei der Polizei melden. Zwei Jahre vergehen. Jan lernt Freunde kennen, spricht bald Norwegisch. Doch das Asylverfahren wird abgelehnt. Jetzt beginnt die Flucht erneut: Gemeinsam mit einem Leidensgenossen beschließt er Ende 2011, nach Deutschland zu gehen. „Der war über 18, und ich dachte er könnte auf mich aufpassen“, sagt Jan heute.

Das Gegenteil ist der Fall. Weil Jan Norwegisch und auch Englisch spricht, wird er die treibende Kraft. Mit der Bahn fahren beide über Dänemark nach Deutschland. Ohne Kontrolle schaffen sie es bis Neumünster. Es ist Silvester. Als sie am Neujahrstag 2012 von Neumünster weiter Richtung Hamburg fahren wollen, endet die Reise vor einem Bundespolizisten. „Kommst du aus Hamburg?“ – „Nein.“ – „Woher kommst du denn?“ – „Ich weiß nicht, wie die Stadt heißt.“ Der Polizist lässt sich daraufhin die Fahrkarten der Jungen zeigen. „Ihr kommt aus Dänemark!“ – „Nein, aus Norwegen.“

Auf der Wache der Bundespolizei gibt’s Neujahrs-Gebäck. Jan soll in ein Jugendheim, doch in Neumünster sind alle Plätze belegt. Aber im katholischen Kinder- und Jugendhaus St. Josef in Bad Oldesloe ist noch einer frei. Für den gläubigen Moslem kein Problem.

Er sei zwar gläubig, aber nicht streng religiös, sagt Jan. „Zum Ramadan faste ich, und ich bete auch ab und zu, aber nicht fünfmal am Tag. Dafür habe ich gar keine Zeit.“ Ute Jünemann, Bereichsleiterin der Inobhutnahme im Haus, sagt: „Wir sind zwar eine katholische Einrichtung. Aber wir gehen auf die Jugendlichen ein.“ So werde für muslimische Jugendliche Essen angeboten, das den Regeln des Islam gerecht wird, auch für einen Besuch in der Moschee gebe es Zeit im Tagesablauf. Wenn sie möchten, können sie jedoch auch an Andachten oder anderen christlichen Angeboten in der Einrichtung teilnehmen. „Die Jugendlichen müssen gar nichts, aber sie dürfen alles“, sagt Jünemann.

„Einige der Angebote hat Jan gern genutzt“, sagt Jünemann. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr, dass Jan zu Weihnachten „Stille Nacht“ gesungen hat. „In einer Art und Weise, die mir Gänsehaut verursacht hat“, erinnert sich Einrichtungsleiterin Birgit Brauer. „Jan ist von Anfang an etwas Besonderes gewesen.“

Besonders schnell findet Jan dann auch Anschluss im Kinderhaus. In den ersten Monaten lernt er Deutsch. „Nach ein paar Monaten konnte ich alles, ich wollte gern in die Schule“, sagt er. Er macht seinen Hauptschulabschluss, danach bekommt er einen Platz an einer Beruflichen Schule.

Heute ist Jan 19 Jahre alt und wohnt jetzt bei Pflegemutter Diana Djordjevic in Lübeck, die ihn einst im Kinderhaus betreut hat. „Sie haben eine besondere Beziehung“, sagt Ute Jünemann. „Wir sind uns ziemlich ähnlich“, sagt Jan, „deshalb verstehen wir uns so gut.“ Trotzdem ist Jan noch häufig in der Einrichtung in Bad Oldesloe. „Jan bleibt dem Haus treu“, sagt Jünemann. Außerdem engagiert er sich im Verein „Menschen in Bewegung“, wo er eine Gruppe mit behinderten und nichtbehinderte Jugendlichen trainiert. Hier hat Jan auch einen 17-jährigen Jungen mit Downsyndrom kennengelernt, den er seitdem einmal die Woche besucht. „Wir haben einen Draht zueinander“, sagt Jan, „wir gehen ins Kino, in die Stadt oder ich besuche ihn zu Hause.“

„Jans Geschichte ist wirklich eine Erfolgsgeschichte“, sagt Jünemann. Und dazu trage er selbst mit seiner offenen Art bei. „Er hat sich schnell auf Neues eingelassen, hat den Kontakt gesucht und viel gefragt.“ Jan grinst. Er sagt: „Ich will die Dinge einfach wirklich wissen, und dann ist auch okay.“

Längst kann er den Mitarbeitern der Einrichtung auch etwas zurückgeben. „Wir können uns hier immer bei Jan melden, wenn wir einen Dolmetscher brauchen oder Fragen zur Kultur haben“, sagt Jünemann. Glück für die Einrichtung, dass der Junge bereits fünf Sprachen beherrscht: Seine Muttersprache Dari, Englisch aus der Schule in Afghanistan, Norwegisch, Deutsch und Hindi. „In Afghanistan haben wir viel indisches Fernsehen“, erklärt er, „wir haben immer die Bollywood-Filme geschaut.“ Und ergänzt: „Heute ist es dann eher Hollywood.“

Nach der mittleren Reife will er aufs Gymnasium gehen und dann Medizin studieren. „Dafür brauche ich eine 1,0 im Zeugnis. Mal sehen, ob ich das schaffe“, sagt Jan, „sonst werde ich IT-Programmierer.“

Warum darf er bleiben, weshalb hat er bekommen, was anderen in vielleicht ähnlicher Situation verwehrt bleibt? Jan überlegt. Dann fällt ihm erst mal der Moment ein, in dem er den Brief von der Härtefallkommission bekommen hat. „Ich war sehr überrascht, ich habe erst mal ein Foto gemacht, es nach Bad Oldesloe geschickt und gefragt ob das jetzt okay so ist.“ Es ist okay. Jan überlegt weiter. „Ich hatte viel Hilfe, aber ich habe auch viel gearbeitet, habe die Sprache gelernt und die Schule besucht.“ Ute Jünemann sagt: „Ausschlaggebend war, dass Jan einen Wert für diese Gesellschaft hat.“ Dann blickt sie zu ihrem Schützling, lächelt und bringt es auf den Punkt: „Du bist integriert.“