Barsbütteler Gemeindevertreter Heinrich Dippel gründet eine Selbsthilfegruppe. Reinbeker Ärztin erklärt, warum das so wichtig ist

Barsbüttel. Es entspricht seinem Naturell, für andere da zu sein, Dinge beherzt anzupacken und sich nicht unterkriegen zu lassen. Früher als Präsident des Kickbox-Verbandes Schleswig-Holstein. Und heute noch immer als SPD-Gemeindevertreter in Barsbüttel. Dabei hat er manchen Kampf gewonnen. Den Feind in seinem eigenen Körper wird er nicht besiegen können. Das weiß Heinrich Dippel. Wohl aber kann er ihn in Schach halten. „Mein Arzt sagt, dass ich noch viele Monate leben kann.“ Womöglich auch Jahre. Der Rentner, 65, hat Krebs. Eine Niere wurde ihm bereits entfernt, doch die bösartigen Zellen streuten in die Lunge. Dort haben sich Metastasen festgesetzt. Der Politiker ist unheilbar krank.

Für Dippel kein Grund, Trübsal zu blasen. Er habe die Krankheit akzeptiert, sagt der gelernte Elektriker und streichelt Ono, seiner sibirischen Waldkatze, zärtlich über das Fell. Er meint es ernst, wirkt fest entschlossen, als er über seine Leidensgeschichte spricht. Immer wieder springt er in die Gegenwart, redet über das, was ihn gerade sehr beschäftigt: die Selbsthilfegruppe für Krebskranke, die Dippel in seiner Heimatgemeinde jüngst ins Leben gerufen hat. Dafür hat er an einem 30-Stunden-Seminar teilgenommen. Dort wurde ihm das Handwerkszeug vermittelt, wie so eine Gruppe zu leiten ist. Es geht um Gesprächsführung und unter anderem darum, wie Betroffene mit Krisensituationen umgehen.

Dippel will anderen Menschen Mut zusprechen, ihnen helfen – und auch sich selbst. „Ich möchte erfahren, wie Betroffene mit der Krankheit umgehen, mich mit ihnen über Therapiemöglichkeiten austauschen und auch berichten, wie es ist, wenn man durchhängt.“

Die Medizinerin Kathleen Fahr begrüßt Dippels Engagement. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie mit eigener Praxis in Reinbek, begleitet seit fünf Jahren Krebspatienten auch im Krankenhaus St. Adolf-Stift. Fahr sagt: „In Stormarn gibt es zu wenig Selbsthilfegruppen. Es ist ein niederschwelliges Angebot, wo jeder mal gucken kann, ob es zu ihm passt. Es ist unverbindlich und für Betroffene sowie ihre Angehörigen eine gute Chance, Rückhalt zu bekommen.“

Heinrich Dippel begegnet dem Tod mit Sarkasmus

Mit dem Tod hat sich Dippel in den vergangenen Monaten intensiv auseinandergesetzt. Angst davor hat er nicht mehr. „Irgendwann müssen wir alle gehen, bei mir verschiebt sich durch die Krankheit nur der Zeitpunkt.“ Um den hinauszuzögern, schluckt der Sozialdemokrat rund zehn Tabletten am Tag. Die Schachteln liegen vor ihm auf dem Wohnzimmertisch, daneben eine Spritze. Mit der injiziert er sich täglich ein homöopathisches Mittel zur Stärkung des Immunsystems. „Die Tabletten nehme ich bis zum Umzug auf den Ohlsdorfer Friedhof.“ Dippel begegnet dem Krebs zumindest verbal immer öfter mit Sarkasmus.

Das war im August 2013 anders, als er Blut im Urin entdeckte und ihn seine Frau Dietlinde drängte, einen Arzt aufzusuchen. Und erst recht in der Nacht auf jenen 23. des Monats, an die sich Dippel noch genau erinnern kann. Vor Schmerzen hatte er sich im Bett gewälzt und an der Türklinke festgehalten. Mit dem Notarztwagen ging es direkt in das Hamburger Marienkrankenhaus. Nach einer Ultraschalluntersuchung sowie einer anschließenden Magnetresonanzspektroskopie (MRS) hatte er Gewissheit: Nierenkrebs, ein bösartiger Tumor. „Das zieht einen den Boden unter den Füßen weg. Mein Mann war immer gesund und auch für unsere zwei Kinder der Fels in der Brandung – und dann kommt so etwas“, sagt Dietlinde Dippel.

Noch bevor ihm eine Niere entfernt wird, entdecken die Mediziner Punkte auf seiner Lunge. Er solle sich keine Gedanken machen, man müsse sich das nach der Operation genauer anschauen, hieß es. Die Reha ist abgeschlossen, Dippel arbeitet wieder bei Hamburg Wasser als Sachbearbeiter, als drei Wochen vor Weihnachten eine genauere Untersuchung erfolgt – und der nächste Schlag. Die Ärzte diagnostizieren Metastasen in beiden Lungenflügeln. Von einer weiteren Operation raten die Experten der Lungenclinic Großhansdorf ab. Dippel macht eine Chemotherapie, fällt in ein mentales Loch.

„Das hat rund eineinhalb Monate gedauert.“ Er wollte eigentlich neue Schuhe kaufen und hätte den Personalausweis verlängern müssen, sieht aber davon ab. „Weil ich dachte, es lohnt sich ohnehin nicht mehr.“ Die Tabletten haben schwere Nebenwirkungen. Dippel bekommt eine Lungenembolie, starke Schmerzen an den Füßen. Haut und Schleimhäute werden dünner, das Nasenbluten nimmt zu, und der Blutdruck steigt.

Der SPD-Politiker will sich seinem Schicksal nicht ergeben, fasst neuen Lebensmut. Aufgeben ist seine Sache nicht. Er bekommt die Probleme in den Griff. „Ich bin mit meiner Frau jetzt 38Jahre verheiratet, wollte sie nicht allein lassen“, sagt Dippel, während er die Hand seiner Dietlinde fest drückt. Er besucht eine Selbsthilfegruppe in Hamburg-Wandsbek.

Die erste Selbsthilfegruppe löste sich schnell auf

Doch der Termin überschneidet sich mit seinen politischen Aktivitäten in Barsbüttel. Daraufhin gründet er im Mai 2014 eine Selbsthilfegruppe in den Räumen der Barsbütteler Kirche. „Zu Beginn kamen drei Frauen mit Brustkrebs und ein Mann, dessen Sohn im Sterben lag. Die Damen wollten sich dann aber nur unter sich besprechen“, sagt Dippel. Nach drei Treffen ist die Gruppe Geschichte.

Der Frauenüberschuss in Selbsthilfegruppen ist keine Seltenheit. Das bestätigt auch Expertin Fahr: „Oft ist das Verhältnis 80 zu 20. Frauen bringen die Fähigkeit mit, leichter über ihre Gefühle zu reden. Männer sind eher vorsichtiger.“ Auf Heinrich Dippel trifft das nicht zu. Er will offen über die Krankheit sprechen und suchte Rat bei der Stormarner Selbsthilfekontaktstelle Kibis in Ahrensburg, deren Träger die Arbeiterwohlfahrt ist. Jetzt unternimmt er einen neuen Anlauf. In seiner Selbsthilfegruppe sollen sich vor allem Menschen mit Nieren- und Lungenkrebs einfinden. „Aber auch Personen mit anderen Krebsarten sind willkommen.“ Angehörige nicht.

Die Gruppe in Barsbüttel trifft sich alle zwei Wochen mittwochs von 19 bis 21 Uhr im Bürgerhaus (Soltausredder 20). Der nächste Termin ist am 11. Februar, die Teilnahme ist kostenlos. Ärztin Fahr rät vor allem denjenigen, die das soziale Miteinander beim Umgang mit der Krankheit bevorzugen, zum Mitmachen. Sie sagt: „Man kann sich in der Selbsthilfegruppe als hilfreich für andere erleben. Das gibt einen das Gefühl einer Aufwertung. Für Krebskranke, die sich allein und unsicher erleben, ist die Teilnahme sinnvoll.“

Heinrich Dippel hat in den vergangenen eineinhalb Jahren viel über den Sinn des Lebens nachgedacht. Er sei inzwischen gelassener geworden. „Wenn andere Stress machen, rege ich mich noch lange nicht auf.“ Demnächst will er sogar wieder mehr Sport machen. Das Anmeldeformular für das Fitnessstudio liegt bereits im Wohnzimmer.