Bank-Geheimnisse: In unserer Serie treffen wir Stormarner auf ihrer Lieblingsbank. Heute: Bernd Wrobel, Direktor des Reinbeker Amtsgerichts

Reinbek. Ein besonders kniffliger Fall beginnt schon vor der Verhandlung: die weiße Fliege. Wo ist nur der Haken? Wo die Öse? Und warum geht bloß der Kragenknopf nicht mehr zu? Bernd Wrobel müht sich redlich. Um den Vorgang besser im Blick zu haben, öffnet er die Tür des Schranks in seinem Direktorenzimmer, das er in den nächsten Tagen räumen wird. Der Abschied naht. Nach 18 Jahren als Chef des Reinbeker Amtsgerichts ist Schluss. Am 6. Februar kommt die Prominenz. Dann gibt es Schnittchen und Reden. Und sicher Wehmut – nach 38 Berufsjahren. „Ach, bis dahin ist noch so viel vorzubereiten“, sagt der 65-Jährige und wehrt ab.

An der Rückwand der Schranktür baumelt ein Spiegel. Klein, mit einem dünnen, gelben Plastikrand. Ein älteres Modell, wie sie sie früher in Drogeriemärkten zu kaufen waren. Kein Prunk. Alles bescheiden. So wie das Amtsgericht selbst. Das Gebäude aus dem vorvorigen Jahrhundert wirkt wie eine Mischung aus Schule und Finanzamt und irgendwie auch Krankenhaus.

„Das war auch ein Krankenhaus“, sagt der Familienrichter mit Nachdruck, während er sich zum Spiegel vorbeugt, um der Fliege endlich Herr zu werden und dabei immer wieder den Fuß zwischen die Tür stellt, die ständig zufällt. Schließlich ist es geschafft. Die Fliege sitzt. „Zu Beginn war es ein Sanatorium, im Zweiten Weltkrieg ein Lazarett, dann eine Klinik“, sagt Wrobel. „Ganz viele Reinbeker sind hier geboren. Ich nicht. Meine Familie kommt aus Ostpreußen, Ortelsburg.“ Pause. „Ortelsburg“ wiederholt er und schaut über den Rand seiner Brille. Als Richter muss er sichergehen, dass er verstanden wird. Also lieber das Wichtige zweimal sagen. Aber das ist nun bald vorbei. Zuhause wartet seine Sigrid. Und die versteht ihn vermutlich auf Anhieb.

Als Lehrer hätte er sicher vieles nicht nur einmal, sondern zigmal wiederholen müssen. „Ich wollte zuerst tatsächlich in die Schule“, sagt Wrobel, der die Fliege endlich besiegt hat und die Robe über den Arm legt, um sich in den großen Verhandlungssaal zu begeben. „Aber ich bin mächtig froh und dankbar, dass ich nicht Lehrer geworden bin. Wenn ich mir die Entwicklung heute so anschaue.“ Als wenn die nicht auch in der Justiz angekommen wäre und die Fälle vor dem Familiengericht immer schwieriger machte.

Zum Abschied kommen 200 geladene Gäste in den Verhandlungssaal

„Das stimmt. Die Zahl der Scheidungen hat deutlich zugenommen“, sagt Wrobel und geht zum Fahrstuhl. Die Treppe ist nichts für seine Knie. Künstliche Gelenke. „Auf beiden Seiten. Aber das geht schon. Ich hab’ nur zu viel auf den Rippen. Fragen sie meine liebe Sigrid“, sagt Wrobel. Er will sich nichts anmerken lassen. „Das Problem ist die Kommunikation. Man redet nicht mehr miteinander, auch nicht mit den Nachbarn. Man unterhält sich über die Anwälte. Man lässt reden.“ Was Wrobel davon hält, macht er mit einem tiefen Atemzug klar: nichts. „Ich bin von der alten Schule. Wenn einer meint, er muss nichts sagen, er habe schließlich einen Anwalt, gehe ich dazwischen. Die persönliche Anhörung ist wichtig.“

Im Raum 107 angekommen, geht der 65-Jährige an großen Blumenkübeln vorbei auf den Richtertisch zu. Der Raum ist groß und hell. Kein rasantes Design. Aber schön. Und norddeutsch gediegen. Mit viel Holzvertäfelung und imposanten Wappen an der Wand. „Das hätten sie mal alles früher sehen müssen“, sagt Wrobel. „Vollkommen runtergekommen. Zum Schluss war das Haus eine Asylbewerberunterkunft. Dann stand es leer.“

Das alte Amtsgericht war in der Sophienstraße untergebracht und zu klein geworden. Als Wrobel im März 1997 als Direktor seinen Dienst antrat, hatte er sofort seinen Blick auf das leerstehende, etwas ramponierte Haus an der Parkallee geworfen. Zwei Jahre später kam der Umzug. Der Fall war gelöst.

„Hier im Saal 1007 werden wir auch meinen Abschied feiern“, sagt Wrobel. Die Oberlandesgerichtspräsidentin aus Schleswig habe sich angekündigt. Der Landesgerichtspräsident aus Lübeck. Auch der Reinbeker Bürgermeister wird kommen, mit seinen Vorgängern. „200 Leute. Das wird voll. Aber der Platz wird schon reichen“, sagt Wrobel, schaut sich um und sieht sofort: Der Stuhl ist nicht der richtige. Er rollt den falschen beiseite und holt sich seinen.

18 Jahre hat er in Reinbek vorne am Richtertisch gesessen, in diesem großen Saal und in den kleinen Sälen. Oft hat er auch in seinem Zimmer verhandelt und nach gerechten Lösungen für Unterhaltszahlungen, das Sorgerecht und Umgangsregelungen gesucht. „Das hat nicht immer geklappt“, sagt Wrobel und blickt nachdenklich zur Decke. „Aber manchmal ist es gelungen, Eheleute durch Mediation zu versöhnen. Da geht einem Herz auf. Es gibt sie, die Chance für einen Neuanfang.“ Oder dafür, dass es gar nicht erst soweit kommt.

Wer Rat suchte, konnte jederzeit kommen. Anruf genügte. Termin abmachen. Fertig. Auch wenn noch gar keine Akte angelegt oder ein Anwalt eingeschaltet worden war. Beratung à la Wrobel: zugewandt und unbürokratisch. „Das lief unter dem Motto: Was wäre wenn?“, sagt der scheidende Amtsrichter, der mit diesem Angebot eine Ausnahme gewesen sein dürfte. „Ich bin eben ein Auslaufmodell“, sagt er und vermittelt, dass er die Ruhe weghat. Egal, was kommt.

„Es kann schon mal hitzig werden bei Familienstreitigkeiten“, sagt Wrobel, der daher für Sicherheitsvorkehrungen gesorgt hat: Bei einer „Lage“ wird die Personenschleuse mit Metalldetektoren scharf geschaltet, die Zahl der Wachmeister im Hause ist von zwei auf vier aufgestockt worden. Es gibt fast täglich Kontrollen. „Zum Glück ist nie etwas Schlimmes passiert“, sagt der Richter, der ohne Zweifel Respekt einflößt. Auch Angst? Er überlegt nur kurz. „Ja“, sagt er. „Häufig ja. Im städtischen Umfeld ist das anders, aber im ländlichen Bereich noch sehr verbreitet.“

Das Pensum eines Richters ist groß. 400 Fälle pro Jahr. „Das ist die Vorgabe“, sagt Wrobel. Für ihn galt in den letzten Jahren eine Ermäßigung um 50 Prozent, weil er eine Leitungsfunktion hatte. Rund 20.000 Fälle hat er in seinem Berufsleben auf den Tisch bekommen. „Leider auch immer mehr Fälle von häuslicher Gewalt“, sagt Wrobel. „Das liegt zum Teil auch am Migrationshintergrund. An den sozio-kulturellen Unterschieden. „Da wird schon mal zugeschlagen. Und leider trifft es auch die Kinder.“ Ein Phänomen der bildungsfernen Schicht? „Nee, nee“, sagt Wrobel. „Das gibt es genauso bei Akademikern. Oft ist Alkohol der Enthemmer.“

Im September 1977 fing die Laufbahn von Wrobel an, als Richter in Hamburg. Später war er auch in Ahrensburg, beim Landgericht Lübeck, beim Oberverwaltungsgericht Schleswig. Er hat viele Schicksale gesehen. Eins hat ihn besonders berührt: das einer Tochter, die von ihrem Vater sexuell missbraucht wurde. „Da hat sich ein Drama abgespielt“, sagt Wrobel. „Und die Mutter hatte keine Möglichkeit, ihr Kind zu schützen, weil der Mann gewalttätig wurde“, sagt Wrobel und schüttelt den Kopf. Er kann als Familienrichter keine strafrechtlich relevanten Urteile fällen. Er hat Beschlüsse gefasst, um der Familie, besonders den Kindern, aus der Situation zu helfen.

Auf den Reinbeker Familienrichter warten neue Aufgaben

Vergessen kann er all das nicht. Aber jetzt kommen neue Aufgaben. Er will zehn Kilo abnehmen, Krimis lesen, häufiger in die Ferienwohnung fahren und als Gemeindevertreter in Wohltorf stärker im Bauausschuss mitmischen. „Ansonsten trete ich in die Gema ein.“ Der 65-Jährige bemerkt den verwunderten Blick. „Sigrid wird zum Beispiel sagen: Geh ma’ in den Garten! Und da gibt es wirklich reichlich zu tun.“

Das Gespräch hat lange gedauert. „Ach, ich alter Quatschkopf“, sagt er. „Ach, ich alter Quatschkopf.“

Bernd Wrobel verlässt den Saal, begrüßt seinen Nachfolger Ulrich Fieber, der die Treppe hochgesprungen kommt, und geht zurück in sein Direktorenzimmer. Sein für heute vorgesehener letzter Fall ist geplatzt. Dabei hatte er den Eheleuten eine „goldene Brücke“ gebaut. „So ist das. Das müssen jetzt die Kollegen weiter bearbeiten.“ Die Fliege verschwindet im Schrank. Diesen Fall hat Wrobel ein für alle Mal gelöst.