Als Kind wurde Sabine Dittler von ihrem Vater missbraucht. Jetzt gründet sie in Ahrensburg eine Selbsthilfegruppe.

Ahrensburg. Die Frau packt einen Küchenstuhl, pfeffert ihn mit Wucht auf den Boden. Dann greift sie zum nächsten. Sie kocht vor Wut. „Drei Stühle gingen auf diese Weise zu Bruch“, sagt Sabine Dittler und wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Es tut mir im Herzen weh, wenn ich an diesen Moment zurückdenke.“ Bis zu diesem Vorfall war die 51-Jährige mit den kecken blauen Augen eine glücklich verheiratete Frau. Sie lebte mit Mann, Kind und Hund in einem schönen Haus, betrieb eine Malschule für Kinder. Dann wandte sich das Glück.

Sabine Dittler ist in ihrer Kindheit sexuell missbraucht worden. Fast 40 Jahre lang hatte sie es verdrängt. Dann kam plötzlich die Erinnerung. Jetzt, nach jahrelanger Therapie, möchte sie eine Selbsthilfegruppe gründen. Der Grund: „Es gibt mehr Opfer als man denkt“, sagt Dittler. „Ich gehe ja sehr offen mit meiner Vergangenheit um. Und auffallend viele Frauen, mit denen ich darüber spreche, antworten dann: ‚Das ist mir auch passiert!’ Oder der Tante, Mutter, Cousine oder Freundin“, so Dittler. Etwa jede fünfte Frau habe so reagiert.

Am schlimmsten sei jedoch, dass den Opfern oft nicht geglaubt werde. „Die haben dann überhaupt niemanden, mit dem sie darüber reden können“, sagt Dittler.

Ihre Erinnerung an den eigenen Missbrauch kam vor sechs Jahren an die Oberfläche. „In der Nachbarschaft ist damals ein Junge sexuell missbraucht worden. Das war, als hätte jemand bei mir einen Schalter umgelegt. Das hat etwas in mir drin ausgelöst“, sagt Dittler. In ihrem Kopf gab es nur noch einen Gedanken: „Ich muss meine kleine Tochter schützen“, sagt Dittler. Warum, das wusste sie nicht. Doch nach und nach dämmerte es ihr, mulmige Gefühle kamen hoch. Erinnerungsfetzen drängten sich wie kleine Puzzlestücke in ihr Bewusstsein. „Und dann wusste ich es auf einmal: Mein Vater hat mich zwischen meinem vierten und siebten Lebensjahr sexuell missbraucht.“

Sie war wütend auf ihren Mann, obwohl der gar nichts dafür konnte

Dittler erzählt es ihrem Mann. Doch der reagiert anders als erwartet: Er zweifelt. „Da habe ich einfach überreagiert“, sagt sie heute. Bei jeder Kleinigkeit sei sie damals aus der Haut gefahren. Gab es Streit, warf sie Gegenstände durch die Luft. „Und ich war so wütend auf meinen Mann, obwohl der gar nichts dafür konnte. Das kam von irgendwo aus dem Inneren heraus.“

Evelyn Böttger von der Beratungsstelle für Frauen und Mädchen in Ahrensburg kennt solche Probleme aus ihrem Praxisalltag: „Missbrauchsopfer inszenieren oft ein inneres Drama. Kleine Probleme werden dann zur Katastrophe aufgebauscht.“ Böttger ist ausgebildete heilpraktische Psychotherapeutin, bei ihr fand Sabine Dittler Hilfe. Denn nicht nur die Kindheitserlebnisse hatten sie aus dem Gleichgewicht gebracht, auch die Ehe war in eine Schieflage geraten. „Ich war dominant, regelrecht kontrollsüchtig“, so Dittler.

Gemeinsam mit ihrer Therapeutin ging sie einen langen, steinigen Weg. Viele Tränen sind geflossen. „Ich bin unheimlich froh, dass ich das so aufarbeiten konnte“, sagt Dittler. Im Gegensatz zu früher sei sie jetzt viel befreiter, könne ihr Leben mehr genießen. „Ich habe meinen Frieden gefunden.“ Auch mit ihrem Mann. Die beiden sind inzwischen geschieden, aber enge Freunde geblieben.

Es hätte allerdings auch anders laufen können. Als Sabine Dittlers Leben aus den Fugen geriet, suchte sie nach einem Psychotherapeuten. „Aber ich wurde überall abgewiesen“, sagt sie. Von mindestens einem halben Jahr Wartezeit sei die Rede gewesen. In der Regel wird Psychotherapie von den Krankenkassen bezahlt, doch die Plätze sind rar.

Einen Ansprechpartner fand Dittler in der Ahrensburger Beratungsstelle für Frauen und Mädchen. „Wir bieten hier vor allem Kurzberatung in Krisensituationen“, sagt Evelyn Böttger. „Aber manchmal überbrücken wir auch so lange, bis die Betroffenen einen Therapieplatz gefunden haben.“

Die Nachfrage in der Ahrensburger Beratungsstelle ist groß

Schon seit 20 Jahren existiert die Einrichtung in Ahrensburg, um bei Problemen wie Missbrauch, Burn-out, Essstörungen, Depressionen oder in der Beziehung eine Anlaufstelle zu bieten. Derzeit sind 14 Therapeuten ehrenamtlich im Einsatz. „Damit entlasten wir auch das Gesundheitssystem und die Krankenkassen“, sagt Evelyn Böttger. Allerdings kämen immer mehr Hilfesuchende in die Einrichtung. „Wir brauchen daher dringend Spendengeld“, betont Böttger.

Im April ist die Beratungsstelle in barrierefreie Räumlichkeiten an der Waldstraße 12 in Ahrensburg gezogen. Dort trifft sich künftig auch die von Sabine Dittler initiierte Selbsthilfegruppe für sexuell missbrauchte Opfer mit Spätfolgen. Der erste Termin ist am Freitag, 16.Januar, von 16 bis 18 Uhr. Interessierte können sich in der Beratungsstelle unter frauenberatung@best-ahrensburg.de oder Tel. 04102/821111 anmelden. Auch eine anonyme Anmeldung ist möglich.