Harald Jäger öffnete vor 25 Jahren den Grenzübergang Bornholmer Straße. In Reinbek spricht er über den Mauerfall

Reinbek. Harald Jäger ist derzeit ein viel gefragter Mann. Ob in Günther Jauchs ARD-Talkshow oder auch bei der Bambi-Verleihung – der 71-Jährige trat in den vergangenen Wochen vor einem Millionenpublikum ins Rampenlicht. Seine Tat, mit der er berühmt wurde, liegt schon mehr als 25 Jahre zurück. Damals, gegen 23.30 Uhr am 9. November. Der Moment, der nicht nur sein Leben veränderte. Jäger war derjenige, der am Grenzübergang Bornholmer Straße in Berlin den Befehl gab, den Schlagbaum zu öffnen und somit das Ende der DDR mitbesiegelte. Über die Ereignisse jener Nacht, die die Welt veränderte, berichtet der Zeitzeuge am Donnerstag, 20. November, um 19.30 Uhr im Reinbeker Krankenhaus St. Adolf-Stift im Rahmen der Dokumentenausstellung 25 Jahre Mauerfall.

Jäger gilt faktisch als derjenige, der die Mauer öffnete. Deshalb ist er bekannt und wird inzwischen auf der Straße erkannt. Dabei steht der frühere Oberstleutnant der Passkontrollstelle nicht gern in der Öffentlichkeit. Jäger ist aus der Anonymität getreten, um sich als Zeitzeuge zur Verfügung zu stellen. Der ehemalige Stasi-Offizier zählt nicht zu den typischen Wendehälsen, ist keiner, der auf einmal im Westen all das als gut empfand, was er während seiner vielen Jahre DDR-Erziehung als Feindbild aufgebaut hatte.

Sein eigenes Wirken hat er reflektiert und spart dabei nicht an Selbstkritik. Rückblickend sagt Jäger heute: „Ich habe einen langwierigen Prozess hinter mir. Vor allem das Erkennen der eigenen schuldhaften Verstrickungen durch meine Anstellung als Offizier bei der Staatssicherheit hat diese Entwicklung nicht leicht gemacht. Nach dieser langen Reise begreife ich mich mittlerweile als Bürger dieses Landes und fühle mich darin auch wohl.“

Der 1943 in Bautzen geborene Jäger war linientreu. So wie viele Menschen in der DDR. Und einer, der die Kaderschmiede der SED durchlaufen hat. Nach der Ausbildung zum Ofenbauer meldete er sich 1961 freiwillig bei der damaligen Grenzpolizei, der späteren Grenztruppe der Nationalen Volksarmee (NVA). Ab 1964 arbeitete Jäger für die Stasi und bis zur Wende in der Passkontrolleinheit (PKE). Von 1976 bis 1979 absolvierte er überdies ein Studium an der Juristischen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Potsdam.

Jahrelang lief für Jäger alles in geregelten Bahnen. Eigenmächtige Entscheidungen mit großer Tragweite waren nicht gefragt im Arbeiter- und Bauernstaat – bis zum 9. November 1989. Zu Beginn seines 24-Stunden-Dienstes als diensthabender Leiter um 7.30 Uhr am Morgen kann Jäger noch nicht im Ansatz erahnen, was da auf ihn zukommt. Als SED-Funktionär Günter Schabowski gegen 19 Uhr im Fernsehen etwas von „Unverzüglich ... sofort“ erzählt, ist der Grenzer gerade auf dem Weg in die Kantine. „Was erzählt denn der für ‘nen geistigen Dünnschiss?“, hat Jäger gedacht. Er und seine Kollegen sind über diese Situation in keiner Weise unterrichtet. Kurz darauf stehen die ersten DDR-Bürger vor der Grenzübergangsstelle, sie kommen näher, und es werden immer mehr.

Jäger kontaktiert immer wieder die Vorgesetzten von der Hauptabteilung IV des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Als die seine Lageeinschätzung an der Bornholmer Straße nicht ernst nehmen und das Telefonat unterbrechen, empfindet er Wut: „Ich fühlte mich allein gelassen. Ich habe nie zuvor deutlicher die Unfähigkeit und Realitätsferne der oberen Leitungskader erlebt als in diesem Moment. Die Kluft zwischen dem Volk, das am Grenzübergang voller Hoffnung ausharrte, und der selbstgefälligen Stasi-Generäle.“ Dann, um etwa 23.30 Uhr, als er für nichts mehr garantieren kann, gibt er schließlich den Befehl: „Macht den Schlagbaum auf.“

Für seinen Biografen Gerhard Haase-Hindenberg, der 2007 das Buch „Der Mann, der die Mauer öffnete“ veröffentlichte, hat Jäger damit Weltgeschichte geschrieben. Ruhm und Ehre bringt ihm die Wiedervereinigung vorerst nicht. Jäger ist sogar zwei Jahre arbeitslos, führt dann mit seiner Frau einen Zeitungsladen, sein letztes Jahr bis zur Rente verbringt er beim Wachschutz im Heizkraftwerk Rummelsburg.

Heute lebt Harald Jäger 40 Kilometer nordöstlich von Berlin im 8000-Einwohner-Städchen Werneuchen. Mit seinen gerade mal 940 Euro Rente im Monat konnte er seine Wohnung in Berlin-Hellersdorf nicht mehr bezahlen. Nach Berlin zieht es ihn nur noch selten.