Joachim Tretow nutzt als Erster das Kooperationsprojekt der Behindertenhilfe Stormarner Wege mit der Wohnungsbaugenossenschaft Neue Lübecker

Ahrensburg. Am meisten freut Joachim Tretow sich über die Ruhe. „Die brauche ich ab und zu.“ Tretow wohnt seit zwei Wochen allein. Es ist die erste eigene Wohnung, die der 54-Jährige bezogen hat. Sie ist im Reeshoop-Viertel in Ahrensburg. Nicht allein für ihn ist das eine Premiere, sondern auch für die Baugenossenschaft Neue Lübecker, die sich zum ersten Mal an einem Projekt für „Inklusives Wohnen“ beteiligt und Tretow die 50 Quadratmeter große Wohnung vermietet.

„Das gefällt mir hier gut“, sagt der Mann, der vorher 22 Jahre lang in Hoisdorf in einer betreuten Wohngruppe für acht Menschen mit leichter geistiger Behinderung lebte. Das Haus Hoisdorf gehört ebenso wie das im Gartenholz, wo er zuvor zehn Jahre lang gewohnt hatte, zu den Stormarner Wegen, einer Einrichtung des Diakonie-Hilfswerks Schleswig-Holstein. Leiterin Magdalena Schwering hatte auf gut Glück bei der Neuen Lübecker angefragt, ob die an einem Kooperationsprojekt interessiert sei. Sie fand sofort Gehör.

„Wir haben zwar so gut wie keinen Leerstand, aber wollten trotzdem mitmachen. So ein Projekt passt gut zu einer Genossenschaft, denn wir verstehen uns als sozialer Faktor in der Gesellschaft“, sagt Jörg Boden, Abteilungsleiter Vermietung bei der Neuen Lübecker, und fügt hinzu: „Die Konstellation ist günstig, denn wir stellen den Wohnraum, die Stormarner Wege organisieren die Betreuung.“ Einen zweiten Platz für „Inklusives Wohnen“ in Ahrensburg hat die Neue Lübecker bereits geschaffen, und der dritte wird im Dezember bezogen.

Damit kommt in Gang, wozu die Stormarner Wege als Eingliederungshilfe, die über 140 stationäre und mehr als 60 ambulante Plätze im Kreis verfügt, ermutigen wollen: neue Wohnmodelle für Menschen mit Behinderung, die sich im Alltag so sicher fühlen, dass sie selbstständig leben können und es auch wollen. „Wichtig ist, dass es der Wunsch des Einzelnen ist. Er darf keine Angst vor dem Alleinwohnen haben. Wir reden die von uns betreuten Menschen nicht aus gemeinschaftlichen Einrichtungen heraus“, sagt Magdalena Schwering. „Wer allein wohnen will, muss so viele Alltagskompetenzen haben, dass er mit einer kurzen ambulanten Betreuung von zwei Hausbesuchen in der Woche auskommt. In der Eingewöhnungszeit kann die Frequenz der Besuche auch höher sein.“ Unterstützt werden sollen die allein wohnenden Behinderten bei der Finanzplanung und im Umgang mit ihrer Post, insbesondere bei Behördenbriefen. Im Alltag aber sollten sie möglichst selbstständig handeln: den Tag organisieren, einkaufen, Essen zubereiten.

All das scheint Joachim Tretow keine Schwierigkeiten zu bereiten. Er arbeitet in Vollzeit in der Tischlerei der Stormarner Werkstätten in Ahrensburg, erledigt Wege gern mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder zu Fuß. „Er ist topfit“, sagt Magdalena Schwering. Und offenbar sehr unternehmungslustig, denn Joachim Tretow zählt sofort auf, dass er, wann immer es geht, Freunde besuche, und am Wochenende einen Ausflug mit Kollegen zum Hamburger Dom plane. Auch wenn er nach der langen Zeit in Wohngruppen das Alleinsein zu schätzen weiß und sagt, „das ist hier besser als in der Wohngruppe“, ist er dennoch ein sozialer Mensch geblieben, der den Umgang mit anderen sucht.

„Das inklusive Wohnen kann bereichernd für alle Beteiligten sein“, sagt Jörg Boden. Magdalena Schwering erzählt, dass Behinderte gern gesehene Nachbarn seien, weil sie ihren Nachbarn gegenüber aufmerksam seien und einer Hausgemeinschaft guttun könnten. Schwering findet, dass Menschen wie Joachim Tretow eine Vorbildfunktion haben – für andere Behinderte, aber auch für ihre Mitbewohner und für die Neue Lübecker, die mit ihren insgesamt 15.161 Wohnungen, knapp 1500 davon in Ahrensburg, ein wichtiger Partner für integrative Wohnprojekte werden könnte. Darüber hinaus, so wünscht es sich die Leiterin der Stormarner Wege, könnte die Neue Lübecker durch ihr Beispiel auch andere Wohnungsbaugenossenschaften zum Mitmachen anregen. „Wir brauchen geförderten Wohnraum, damit die Stadt die Miete übernimmt. Ich rechne mit fünf bis zehn Bewerbern jährlich für integrative Wohnprojekte“, sagt sie.

Joachim Tretow fühlt sich zurzeit rundum wohl. In der Tischlerei hat die Produktion für den Weihnachtsbasar begonnen. Zu Hause ist er fast eingerichtet. Am liebsten sitzt er im Wohnzimmer, wo er eine Fensterbank mit einer Sammlung von Teddybären dekoriert hat. Mitten im Raum steht ein bequemer Sessel, von dem aus er Fernseher und Musikanlage bedient. Er schaut sich besonders gern Fußball an, vor allem den HSV, obwohl das in letzter Zeit eine gewisse Leidensfähigkeit erforderte: „Das ertrage ich aber“, sagt er, grinst und verspricht noch ein kleines Fest zum Neustart: „Ich mache hier noch was und lade Leute ein.“