Mann soll in Oststeinbek seinen Verwandten erschossen haben – Prozessauftakt

Oststeinbek/Lübeck. Nach dem ersten Schuss sackt der junge Mann vor seinem Mörder auf die Knie. Der Täter setzt daraufhin den Lauf seiner Waffe auf die Stirn des 29-Jährigen und drückt ab – zweimal. Anschließend schießt er ihm ein zweites Mal in die Brust, flüchtet und lässt den Toten an einem Feldweg im Oststeinbeker Ortsteil Havighorst liegen. Als Staatsanwalt Nils-Broder Greve beim Prozessauftakt diesen Abschnitt der 130-seitigen Anklageschrift verließt, geht ein Schluchzen durch die I. Große Strafkammer des Lübecker Landgerichts. Es sind die Tränen der Witwe, der Eltern und Schwestern des Opfers, die als Nebenkläger gekommen sind sowie der rund 20 Freunde und Verwandte, die im Zuhörerbereich den Prozess verfolgen. Wie der mutmaßliche Täter stammen sie aus Afghanistan.

„Alles Lüge“, übersetzt die Dolmetscherin des Angeklagten aus dem Farsi die Reaktion von Massoud A. (Name geändert) auf die Anklageschrift. Der 45-Jährige trägt einen eleganten Anzug und guckt gequält. In der Nacht vom 4. auf den 5. März soll er, so liest es Greve weiter vor, das Opfer angerufen haben und Karim C. zu einen Treffen in Hamburg-Lohbrügge überredet haben. Portier Karim C. (Name geändert) beendet seine Spätschicht im Hotel Marienthal. Anschließend, um 23.20 Uhr, fahren Massoud A. und sein Verwandter – der mutmaßliche Täter war bis Ende 2013 mit der Schwester der Witwe verheiratet – gemeinsam nach Havighorst. Dort, direkt an der Landesgrenze, soll Massoud A. den jungen Mann in die Feldmark gelockt haben, wo er ihn schließlich getötet haben soll. „Das war Heimtücke, denn das Opfer hatte keine Chance, in der menschenleeren Gegend um diese Uhrzeit Hilfe zu bekommen“, sagt der Staatsanwalt und gründet damit seine Mordanklage.

Das Auto des Opfers finden die Ermittler der Lübecker Mordkommission kurz darauf in der Nähe des Tatortes. Es ist ausgebrannt. Zudem sichern sie in der Umgebung das weiße Handy des Opfers. Hinweise auf dem Mobiltelefon, weitere Ermittlungsergebnisse und die Aussagen von Angehörigen führen die Beamten schließlich auf die Spur von Massoud A. Sie nehmen ihn etwa zwei Wochen nach der Tat vor der Wohnung seiner Mutter in Hamburg-Jenfeld fest. Seitdem sitzt der Mann, der drei Kinder hat, im Gefängnis.

„Ich war es nicht“, sagt er immer wieder. „Ich habe meinen Schwager geliebt, wie einen Sohn, wie einen Bruder“, sagt er, ohne eine Emotion zu zeigen. Das ändert sich, wenn er über sein vermeintliches Alibi spricht. „Ich war zu dem Zeitpunkt im Spielcasino“, sagt er, gestikuliert und fügt an, dass das Casino 30 Kilometer vom Tatort entfernt im Hamburger Stadtteil Wandsbek liegt. Laut Karte sind immerhin 15 Kilometer. Die Angestellten könnten das bezeugen, und die Polizei solle nachträglich sein Handy während der Tatzeit orten und Kameras auswerten. „Das würde beweisen, dass ich in Hamburg und nicht am Tatort war“, sagt Massoud A.

Während der Vater und eine Schwester des Opfers sich bei Ausführungen des mutmaßlichen Mörders Notizen machen, fixiert die Witwe mit versteinerter Miene den Ex-Mann ihrer Schwester, der ihren Ehemann getötet haben soll. Hinter ihr sitzt Staatsanwalt Greve, hinter dem sich wiederum in einer großen Kiste die Akten stapeln. Zwei weitere Kisten stehen hinter Richter Christian Singelmann und seinen Schöffen. Sie deuten bereits am ersten Prozesstag an, dass es langwieriger Indizienprozess werden dürfte, zu dem 52 Zeugen und zwei Sachverständige geladen sind.

Denn was der Anklage fehlt, ist nicht nur die Tatwaffe, die weder beim Angeklagten noch am Tatort gefunden werden konnte, sondern (bisher) auch ein Motiv. „Keiner mordet ohne Motiv“, sagt der Verteidiger von Massoud A. in seinem Beitrag. Er spricht über Vorverurteilung, fehlende Beweise und sagt: „Ich hoffe, dass der Prozess zeigen wird, dass mein Mandant unschuldig ist.“

Ein fundiertes Bild vom Fundort der Leiche, das konnten sich Richter Singelmann, die Staatsanwaltschaft und die Staatsanwaltschaft am ersten Prozesstag allerdings formen. So deckten sich die Aussagen der ersten Polizisten am Tatort, die der Einsatzführerin der Rettungswagenbesatzung und die der Passanten, die die Leiche am Morgen nach der Tat entdeckt haben mit den angefertigten Fotos. Demnach waren Abdrücke von Autoreifen etwa einen halben Meter neben der Leiche. Ob sie von dem Auto des Opfers stammen, soll bei einem der kommenden Prozesstagen geklärt werden.

Am kommenden Prozesstag will Richter Christian Singelmann den Angeklagten ausführlich befragen. Er beginnt am Montag, 1. Dezember, um 9 Uhr. Insgesamt sind 14 Prozesstage eingeplant.