Wie Anselm Kohn, Gründer des Vereins „Missbrauch in Ahrensburg“, die Vorstellung des erschütternden Berichts über Missbrauchsfälle erlebte

Ahrensburg. Es ist kurz nach zehn Uhr. Anselm Kohn geht durch die Eingangspforte auf die Gebäude des Kirchenkreises Hamburg-Ost zu. In wenigen Minuten wird hier die Expertenkommission ihren Bericht über die Missbrauchsfälle in der Nordkirche vorstellen. Zwei Jahre hat die Aufarbeitung gedauert. Im Zentrum der Vorwürfe: Pastor Dieter K., der sich in den 80er-Jahren an Jugendlichen sexuell vergangen hat. Ein ehemaliger Ahrensburger Pastor im Kirchsaal Hagen – und Stiefvater von Anselm Kohn.

Die Anspannung und Betroffenheit ist Kohn anzumerken. Der Gang in die Geschäftsstelle des Kirchenkreises ist nicht leicht für ihn. Vieles wird gleich auf den Tisch kommen und Erinnerungen wachrufen. Dann ein Lächeln. Er wird schon erwartet.

Vor der Tür haben sich Mitglieder der Ahrensburger Mahnwache versammelt, die nach dem Aufdecken der Vorgänge im Frühjahr 2010 monatelang vorm Kirchsaal Hagen und der Schlosskirche mit stummem Protest auf die Vorgänge aufmerksam gemacht und Aufklärung eingefordert hatten. „Wir kommen da nicht rein“, sagt eine junge Frau aus der Gruppe. Aber das kennen wir ja schon. Es ist so wie immer.“

Die Mitglieder der Mahnwache dürfen nicht rein. Anselm Kohn darf nicht aufs Podium. „Ich komme trotzdem“, hatte der Gründer des inzwischen aufgelösten Vereins Missbrauch in Ahrensburg in einer E-Mail geschrieben. Enttäuschung war herauszulesen, Verwunderung und Trotz. Jetzt ist er da, mit einem Koffer voller Unterlagen. „Ich habe schon in den Bericht reinschauen können“, sagt er. Sein erster Eindruck ist positiv. „Das ist kein BlaBla. Das steht wirklich etwas drin.“

Während Anselm Kohn in den vierten Stock fährt, kommen unten vor der Tür Funktionsträger auf die Mitglieder der Mahnwache zu. Es wird verhandelt, telefoniert. Man bemüht sich, die Situation zu lösen. Das Ergebnis: Zwei Mitglieder dürfen mit nach oben. Die anderen sollen mit Beginn der Pressekonferenz den Bericht erhalten. Es ist ein umfangreiches Werk. 500 Seiten stark. Lektüre für die nächsten Wochen.

Als Anselm Kohn in den Bugenhagensaal kommt, haben sich schon TV-Leute mit ihren Kameras positioniert. Radio-Teams gehen mit Mikros rum. Vertreter von Tages- und Wochenzeitungen harren der Dinge. Kohn geht in die linke Ecke. Ganz nach hinten. Als wollte er sich nicht zeigen. Vielleicht will er sich auch nur einen Überblick verschaffen, wer alles da ist. Bischöfin Kirsten Fehrs, Pröpstin Ulrike Murmann und die Kommissionsmitglieder Petra Ladenburger, Martina Lörsch, Ursula Ender und Dirk Bange nehmen nach und nach vorne Platz.

Dort wo Anselm Kohn auch hätte sitzen wollen. „Natürlich ist Herr Kohn eingeladen und kann auch später Fragen beantworten“, sagt Susanne Gerbsch, Pressesprecherin der Bischöfin Kirsten Fehrs. Und nicht alle Betroffenen zur Vorstellung des Berichtes zu laden, sei schlicht ein Platzproblem. Gerbsch: „Aber alle bekommen selbstverständlich den Bericht.“ Seit gestern kann er auch im Internet runter geladen werden.

In letzter Sekunde wechselt Anselm Kohn die hinterste Ecke gegen einen Platz in der ersten Reihen. Direkt vor Bischöfin Fehrs. Auch sie wirkt angespannt und ernst. Dann kommt ihr erstes Statement. „Wir als Institution Kirche sind schuldig geworden. So viel Gewalt unter dem Dach der Kirche.“ Stille. Es ist ein authentischer Moment. Die Bischöfin atmet hörbar. Ihre Wangen sind rot. Kohn ist blass. Die ganze Schwere der unglaublichen Vorgänge, um die es hier geht, ist in seinem Gesicht abzulesen. Hinter ihm sitzen die beiden Mitglieder der Mahnwache, die von den anderen abgesandt worden sind. Vater und Tochter. Beide haben ihre Köpfe gesenkt.

Nach der Bischöfin kommen die Mitglieder der Kommission an die Reihe. Anselm Kohn hört zu, schreibt mit und verzieht keine Miene. Auch nicht, als sich der für Ahrensburg zuständige Propst Hans-Jürgen Buhl einschaltet. Er sei wohl naiv gewesen. Der Bericht sei ein „Augenöffner“ für ihn. „Jetzt verstehe ich erst, dass der Streit und die Spaltung in der Ahrensburger Kirchengemeinde zum großen Teil auf die Missbrauchsfälle zurückzuführen sind.“ Einen Königsweg habe er nicht. „Im Bericht steht das Wort Waffenstillstand“, sagt Propst Buhl.

Kohn sagt nichts. Auch bei der Fragerunde kein Kommentar. Um so mehr wird er hinterher von Presseleuten belagert. Erweitertes Führungszeugnis, Abstinenzverbot, eine Stabsstelle gegen sexualisierte Gewalt – was sagt er zu den Konsequenzen, die die Kirche ziehen will? „Ich wundere mich, dass schon jetzt ein Zehn-Punkte-Plan vorliegt“, sagt Kohn. „Jeder ist gegen Missbrauch.“ Da schwingt Misstrauen gegenüber schönen Worten mit. Und wie steht er zum angekündigten Disziplinarverfahren gegen eine ehemalige Ahrensburger Pröpstin? „Warum nur ein Verfahren? Das wundert mich auch“, sagt Kohn. Im Übrigen sei auch der Staat gefordert. Er sei verantwortlich, wenn Kirche als Staat im Staate geschlossene System etabliert, in denen so etwas passieren kann.

Draußen vor der Tür stehen immer noch die Mitglieder der Mahnwache. Vater und Tochter berichten, was sie gehört haben. „Der Bericht ist für mich in Ordnung. Jetzt kommt es darauf an, was daraus wird“, sagt die junge Frau. Dass, wie angekündigt, Pastoren ausgewechselt werden könnten, glaubt sie nicht. Ihr Vater ist anderer Meinung: „Das haben wir immer gefordert. Und ich denke schon, dass Propst und Pastoren sich jetzt in die Augen schauen werden.“