Jan Rüten-Budde aus Reinbek fuhr sieben Monate mit dem Rad durch Europa. Das Abendblatt begleitete ihn auf dem letzten Teilstück

Reinbek. Die Zahlen sind beeindruckend: Er hat 22 Länder durchquert, 158 Etappen abgerissen und dabei 16.308 Kilometer zurückgelegt – mit dem Fahrrad. Nach siebenmonatiger Europa-Tour ist der Reinbeker Jan Rüten-Budde zurück, 25 Kilogramm leichter als beim Start im Februar. Die finalen 40 Kilometer absolvierte der 57-Jährige nicht allein. Abendblatt-Redakteur René Soukup begleitete ihn auf dem letzten Teilstück und machte dabei so manch schmerzvolle Erfahrung.

Treffpunkt Hohnstorf, direkt gegenüber von Lauenburg an der Elbe, am späten Vormittag: Der Himmel ist blau, die Sonne entfaltet ihre ganze Kraft. Ich entspanne am Wasser, doch gleich ist es damit vorbei. In der Ferne erblicke ich ein Fahrrad, bepackt mit Sattel-, Vordertaschen und einem Schlafsack. Schnell kommt es näher. Jan Rüten-Budde, der am Morgen in Hitzacker gestartet war, hat einen ganz schönen Zahn drauf und bereits 50 Kilometer in den Beinen. Fast fünf Mal soviel wie ich. Trotzdem: Die zehn Kilometer Anschwitzen zur Bahn nach Bergedorf waren für einen Kurzstreckenspezialisten wie mich auch nicht ohne.

Etappe in den Karpaten führte über 1413 Meter hohen Gebirgspass

Rüten-Budde, mit kurzer Hose und einer gelben Warnweste über dem blauen T-Shirt bekleidet, wirkt entspannt. „Das sind optimale Bedingungen für ein gemütliches Ausrollen“, sagt er und fasst sich an den langen Bart, der seit sieben Monaten nicht gestutzt wurde. Seine strammen Waden lassen erahnen, was dieser Mann geleistet hat. Er berichtet von Etappen in Griechenland bei über 40 Grad Celsius und der Überquerung des 1413 Meter hohen Prissloppasses in den Karpaten im Norden Rumäniens mit heftigen Anstiegen. „Einige Überholmanöver der Autos waren da ganz schön eng, und als sieben bellende Hunde auf mich zukamen, war das ein mulmiges Gefühl.“ Passiert sei ihm jedoch nichts.

Jetzt geht es über den Elbdeich in Niedersachsen und Geesthacht sowie Bergedorf zurück nach Reinbek. Für den Mathematiker ein Kinderspiel, für mich körperliche Arbeit. Das merke ich schon nach einer Viertelstunde. Der Wind bläst uns entgegen. Um Rüten-Buddes Tempo von 19 km/h zu halten, trete ich ordentlich in die Pedalen, schalte vom fünften in den vierten Gang runter. Und frage meinen Nebenmann, wie viele Kilometer es noch bis zum Ziel sind? Die Antwort ist ernüchternd: 35.

Der Reinbeker spult Kilometer um Kilometer wie ein Uhrwerk ab, den Wind ignoriert er offenbar: „Ist mittelschwer, in den Niederlanden war er strapaziös. Da ist man in kleinem Gang gerade mal mit 10 km/h vorangekommen.“ Er schaltet die Gänge im Minutentakt hoch und runter. Man merkt sofort: Hier ist ein Profi am Werk, der bei der kleinsten Profiländerung reagiert. Allerdings knarrt die Kette, als hätte ihre letzte Stunde geschlagen. Zwei von ihnen hat Rüten-Budde auf der Tour verschlissen, diese muss halten.

Unterwegs hat er einige Euro in sein 13 Jahre altes Trekking-Rad, mit dem er bereits über die Anden und bis zum Nordkap gefahren ist, investiert. Die Schadensbilanz: vier Speichenbrüche, ein kaputter Sattel, ein Plattfuß, ein gebrochener Flaschenhalter sowie ein in Mitleidenschaft gezogenes Hinterrad, das er samt Reifen in Triest gewechselt hat. „Damit wollte ich nicht weiter auf den Balkan und nach Osteuropa.“ Dorthin, wo er so tolle Erlebnisse gehabt und jede Menge freundliche Menschen kennengelernt hat. Der Reinbeker: „Je ärmer die Länder, umso größer die Gastfreundschaft. Ich war sehr angetan, wie mich die Menschen zum Beispiel in Albanien und Moldawien behandelt haben.“

Angetan wäre ich jetzt von einer längeren Pause. Immerhin sind wir schon 15 Kilometer gefahren. Und in meinen Oberschenkeln zieht es bei jedem kleinen Anstieg. Doch ich schweige, ich will die konditionellen Mängel nicht zugeben. Plötzlich stoppt Rüten-Budde. Die Erlösung? Mitnichten. Er schlägt vor, für ein paar Minuten die Räder zu tauschen. Ich mit 30 Kilo Gepäck bei diesem Gegenwind? Meine innere Stimme sagt nein, doch ich willige ein. Zuerst habe ich Probleme, überhaupt geradeaus zu steuern. Zudem reduziert sich unsere Durchschnittsgeschwindigkeit auf 12,2 km/h. Und wieder meine Frage nach den Restkilometern.

„Wir können auch gerne über den Zollenspieker fahren, das sind 15 Kilometer Umweg“, entgegnet Rüten-Budde. Er meint es ernst. Mit Umwegen hat er so seine Erfahrungen gemacht. Zum Beispiel im Mai auf der Etappe von Pompeji nach Pisciotta in Italien. Dort standen 25 Kilometer mehr als geplant auf dem Tachometer – wegen eines Erdrutsches. „Schließlich waren es 149 Kilometer mit 800-Meter-Anstiegen zum Ende. Da hat man am Abend gespürt, was man getan hat.“

Vier Bananen am Tag und literweise Flüssigkeit gegen Krämpfe

Genauso wird es mir heute auch ergehen, denke ich und sehne mich nach der Couch. Doch vorerst habe ich zumindest eine Holzbank unter dem Allerwertesten, der allmählich zu schmerzen beginnt. Kurz bevor wir bei Geesthacht die Elbbrücke überqueren ist endlich Pause. Das Thema Zollenspieker hat sich auch erledigt.

Rüten-Budde verspeist inzwischen die vierte Banane. So wie jeden Tag in den vergangenen Monaten. Er sagt: „Da ist viel Magnesium drin, das beugt Krämpfen vor. Dazu habe ich bis zu sieben Liter getrunken.“ Auf 6000 bis 8000 Kalorien beziffert er seinen täglichen Verbrauch, übermäßig viel habe er nicht gegessen. Das erklärt auch seine Gewichtsreduktion von 125 auf 100 Kilo. Die Tour läuft in seinem Kopf noch einmal wie ein Film ab. Er berichtet von einer Begegnung mit einem türkischen Melonenbauern, der sein Land noch nie verlassen hat und ihn zum Tee einlud. „Der Mann hat sich unsere Sprache durchs Radiohören angeeignet und plötzlich über Glinde referiert. Die Informationen hatte er sich über das Internet besorgt.“

Das Heimweh muss groß sein. Wieder auf dem Sattel, radelt Rüten-Budde zügig über die Brücke. Ich hingegen schleppe mich die Steigung hoch, womöglich wären ein paar Bananen zwischendurch besser gewesen als das üppige Bauernfrühstück in Hohnstorf. Mein Glück: Die Strecke ist danach eben, und wir dürfen erst um 17 Uhr in Reinbek sein. So ist es mit seiner Frau abgesprochen. Wir sind laut Plan überpünktlich, das verschafft mir eine einstündige Pause in Bergedorf.

Die letzten 4,5 Kilometer lässt Rüten-Budde gemächlich angehen. Auf dem Täbyplatz besorgt er seiner Frau Rosen. Und wird an einem Stand des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs aufgehalten. Die beiden Mitarbeiter wollen ein gemeinsames Foto. Zwei Minuten später als vorgesehen biegt er in die Straße Gergenbusch ein. Dort warten 50 Freunde. Dann der erste Kuss nach Monaten für Ehefrau Dörte. Was ihr genauso gut geschmeckt haben dürfte: die Entfernung des langen Bartes am nächsten Morgen.