Mit einer familiären Stammzellenspende besiegt Berit Schierholz, 29, aus Bargfeld-Stegen den Blutkrebs. Die Geschichte eines harten Kampfes

Da sitzen die beiden Schwestern am Küchentisch und blicken sich in die Augen. Berit Schierholz, 29, und ihre große Schwester Kirsten, 31. Wie Feuer und Wasser seien sie immer gewesen. Keine beste Freundinnen oder so. Sondern grundverschiedene Charaktere, die nie so richtig miteinander konnten. Fast ein Witz, dass jetzt klar ist, dass sich die uneinigen Schwestern so ähnlich sind wie kaum zwei andere Menschen auf der Welt. Und weil das so ist, konnte Kirsten ihrer Schwester Berit das Leben retten. Feuer und Wasser gehen doch ganz gut zusammen. Kirsten löschte das Feuer, das in Berit wütete.

Es geht im Februar 2013 los. Berit lebt in Recklinghausen, arbeitet dort als Steuerfachgehilfin. „Ich hatte chronisch Kopfschmerzen und fraß eine Schmerztablette nach der anderen. Um 20 Uhr war ich jeden Abend platt und fiel ins Bett“, sagt Berit. „Ich dachte, was alle denken, wenn so was ist. Bist’ halt irgendwie nicht gut drauf.“

Der Arzt behandelt sie auf Spannungskopfschmerzen. Irgendwann bekommt Berit Schierholz aber einen Magenpilz, der sich über die Speiseröhre bis in den Mund ausbreitet. „Eines Nachts hatte ich plötzlich rasende Schmerzen in der Leiste. Ich musste mich übergeben, konnte mich kaum mehr bewegen. Ich rief den Notarzt.“ Im Krankenhaus nimmt man ihr den Blinddarm heraus – aber der ist völlig gesund.

Die Ärzte finden aber noch etwas in der Leiste: einen Thrombus, einen Blutpfropfen. Berit: „Er hatte über 100 Gramm. Die Ärzte sagten, der hätte sogar einen Elefanten töten können.“ Die Ärzte begreifen, dass sie irgendetwas übersehen haben und stellen Berit auf den Kopf. Nach Lage der Dinge spekuliert ein Arzt vor der entscheidenden Untersuchung: „Sie bekommen jetzt eine Diagnose, die irgendwo zwischen ,Sie haben jetzt noch drei Monate zu leben!‘ oder ,Sie werden uralt!‘ liegen wird.“

Berit vertraut ihrem Bauchgefühl. Und das sagt: Du schaffst das!

Was in Berit wütet, ist schwer auszusprechen. Es ist das Myelodysplastische Syndrom, abgekürzt MDS. Es ist das Unvermögen des Körpers, vollständige und gesunde Stammzellen zu produzieren. Unbehandelt führt MDS innerhalb von sechs bis 100 Monaten zum Tod. „Mein Blut produzierte zu viele Thromben. Mein ganzer Kopf war voll davon – deshalb die Kopfschmerzen.“

Berit nennt ihr MDS griffig Blutkrebs, richtet die Facebook-Seite „Berit knackt den Blutkrebs!“ ein und vertraut vom ersten Tag der Diagnose an ihrem Bauchgefühl, das da sagt: „Ich schaff’ das, keine Frage!“ Sie verlässt Recklinghausen. Sie will ihr Leben in die Hände der Onkologie-Experten am Universitätsklinikum Eppendorf legen. In Bargfeld-Stegen findet die gebürtige Ahrensburgerin eine neue Heimat.

Am UKE stellen die Ärzte im Februar 2014 fest, dass Berit kurz vor dem Ausbruch der akuten Leukämie steht. Das wäre ihr Todesurteil. Die Ärzte interessiert jetzt nur eines: „Haben Sie eine Schwester?“ Denn Berit braucht dringend einen Stammzellenspender. Zehn Merkmale müssen genetisch zwischen zwei Menschen übereinstimmen, damit das klappen kann. Am höchsten ist die Wahrscheinlichkeit bei Geschwistern.

Als die Untersuchung der Schwester Kirsten ansteht, spürt diese den Druck. „Ich war voller Hoffnung. Aber da war auch dieser Gedanke: Mann, jetzt bin ich verantwortlich, wenn was nicht stimmt.“ Auf der Transplantations-Station im UKE erfahren Berit und Kirsten von einem Mädchen, das an Leukämie litt. „Das Kind hatte vier Geschwister – und keines kam als Spender infrage“, sagt Berit. Eine Ärztin wünscht Berit „ganz viel Glück, dass das bei euch passt“. Berit ist geschockt: „Ich hatte bis dahin irgendwie nicht wirklich akzeptiert, dass ich eine schwere Krankheit habe. Plötzlich merkte ich, die macht sich ernsthaft Sorgen um mich. Da habe ich das erste Mal richtig Angst um mein Leben bekommen.“

Der Weg in ein neues Leben für Berit wurde für beide Schwestern zu einem Parforce-Ritt durch die Hölle. Die bösen kaputten Stammzellen in Berit werden mit drei chemischen Bomben pro Tag angegriffen. In den letzten vier Tagen vor der Transplantation gibt es Chemo-Dauerfeuer, alle drei Stunden. Berit liegt mit zerschossenem Immunsystem und völlig erschöpft auf der Isolierstation und leidet unter Fieber und Schüttelfrost. Kirsten wird mit Spritzen behandelt, die ihre Stammzellenproduktion anregen sollen, die bei ihr eher mittelprächtig ausgebildet ist. Die Dosis wird hoch angesetzt und Kirsten leidet unter üblen Knochenschmerzen und allen Symptomen einer Grippe. Schließlich kollabiert sie sogar in ihrem Bett vor Erschöpfung. Bei der Blutwäsche ernten die Mediziner aber sieben Millionen Stammzellen – genug für Berit. „Es war schlimm. Aber ich wusste, wofür ich das alles tue“, sagt Kirsten.

Den Moment, als der Infusions-beutel mit den rettenden Stammzellen ihrer Schwester auf die Isolierstation kommt, erlebt Berit in totaler Erschöpfung und als wenig erhaben. „Das war nicht so, dass ich dachte: Da kommt mein neues Leben! Er wurde angestöpselt und die Stammzellen tröpfelten über den Venen-Katheder an meinem Hals in mich hinein. Ich musste weinen und habe mich übergeben“, sagt Berit.

Am 23. Mai, nach fünf Wochen im UKE, wird Berit entlassen. Die Transplantation hat angeschlagen, ihr Körper hat begonnen, gesundes Blut zu produzieren. Zwar muss Berit noch jede Menge Medikamente einnehmen und auch ihr Leben lang Lymphdrainagen anwenden, um das Wasser aus ihren Beinen zu bekommen. Aber sie kann eben auch wieder davon sprechen, etwas ein Leben lang tun zu müssen. Das tödliche Feuer ist gelöscht.

Radfahren, laufen und vor allem reiten: Berit setzt sich neue Ziele

„Ich bin irgendwie froh, diese Krankheit bekommen zu haben“, sagt Berit. Sie freut sich jetzt über einen einzelnen Sonnenstrahl. Kürzlich stellte sie sich auf dem Balkon in den Regen, weil das Nass werden so schön war. Sich über alltäglichen Blödsinn aufregen, war gestern. „Ich bin gelassener, positiver geworden“, sagt Berit. Ihre Familie – die „beste Familie, die ich mir denken kann“ – ist zusammengerückt.

Die enormen Belastungen für Mutter, Vater und die Schwestern haben sie gemeinsam in einer Familientherapie aufgearbeitet.

Drei Ziele hat sich Berit Schierholz in ihrem neuen Leben gesetzt. Sie will die Cyclassics in Hamburg mitfahren. Sie möchte einen Halbmarathon schaffen. Und mit ihrem Pferd an einem Turnier teilnehmen. In einem Stall haben Berit und Kirsten drei Pferde untergebracht. Berit ist oft hier draußen. Im Stall muss sie zum Schutz vor Pilzen eine Atemmaske tragen. „Das ist eine aus dem Baumarkt. Die tragen Bauarbeiter, wenn sie Asbest abbauen müssen. Ich bin der Darth Vader des Reitstalls.“

Als Darth Vader im Sattel hat Berit am letzten Wochenende an einem Springreitturnier teilgenommen. Sie holte den dritten Platz. Ziel eins von drei ist erreicht. Wenn sie so weitermacht, wird Berit sich wohl noch ein paar Ziele mehr im Leben setzen müssen. Genug Zeit hat sie ja jetzt.