Neugier, Ehrlichkeit, Im-Moment-Leben. Darauf komme es auch in der Musik an, sagt Sol Gabetta in Ahrensburg

Ahrensburg. Sie ist das Gesicht des Schleswig-Holstein Musik Festival. 18 Auftritte. Alle ausverkauft. Auch der Marstall. Viele konnten es gar nicht glauben, dass der Weltstar Sol Gabetta ins beschauliche Ahrensburg kommen würde. Und dann, um ein Kinderkonzert zu geben. Aber die Cellistin kam, nach zwei Abenden in Hamburg und Lübeck und einem kräftezehrenden Schostakowitsch. Mit reichlich Aspirin im Gepäck, gegen einen fiebrigen Infekt, dessen Rest sie einfach wegstrahlte, und mit einer Botschaft.

Sol Gabetta: „Ich spüre eine Verantwortung für die Musik und vor allem für die Zukunft der Musik.“ Deswegen seien Konzerte für Kinder so wichtig. Aber das Kindliche, das Direkte, das Spontane sei umgekehrt auch unverzichtbar für das Entstehen von Musik. „Jeder von uns trägt die Kindheit in sich. Wenn man das nicht mehr spürt, ist die Seele tot. Dann ist es vorbei“, sagte der Weltstar nach dem Konzert in einem Interview mit der Abendblatt-Regionalausgabe Stormarn. „Ich merke es an mir. Ich bin immer noch neugierig wie ein Kind. Das will ich nicht verlieren. Die Kinder zwingen mich dazu, dieser Neugierde weiter zu folgen.“ Und die Musik immer neu zu entdecken.

Die Zuhörer wandern mit einer Puppe durch das Wunderland der Musik

„Ich schätze auch die Ehrlichkeit bei Kindern “, sagte die aus Argentinien stammende Cellistin und fügte ein Bekenntnis hinzu: „Wenn ein Kind etwas nicht mag, mag es das eben nicht. Ich bin eigentlich genauso. Ich bin überhaupt nicht diplomatisch.“ Das könne schon mal problematisch werden. Aber es sei wichtig, dem anderen zu verstehen zu geben, wie die Situation tatsächlich sei. Sol Gabetta: „Das ist das Tolle an Kindern. Wenn etwas lustig ist, lachen sie. Wenn etwas traurig ist, sind sie ganz still. Und wenn sie etwas nicht mögen, fangen sie an, Lärm zu machen. Das ist alles ganz deutlich.“

Und wie deutlich!

„Wo ist sie nur?“ fragt Sol Gabetta, als sie auf die Marstall-Bühne kommt und mit Ulrike Payer beinahe unter den Flügel krabbelt. Auch der Pantomime Fabian Gysling läuft umher. Jemand wird gesucht. Aber wer? Dann fällt ein Name: Alice. Ob es wohl die Alice aus dem Wundeland ist? Die Kinder sitzen mit offenen Mündern auf dem Schoß der Eltern oder haben sich in Richtung Bühne gerobbt und harren nun auf dem Boden lümmelnd auf des Rätsels Lösung. Die kommt: in Gestalt eines Wesens mit Glupschaugen, weißem Kittelkleid und langen braunen Haaren.

Der Puppenspieler hat seine Partnerin endlich gefunden und präsentiert sie nach einigem Wispern auf der Seitenbühne – offenbar eine kleine Auseinandersetzung mit der unwilligen jungen Dame – dem Publikum. Alice hat sich gesträubt. Nun steht sie da, mit einem Stab am Kopf festgehalten, und wirkt doch so echt, dass sich auch die älteren Zuschauer der Illusion hingeben, diese Alice wäre lebendig. Gut drauf ist sie allerdings nicht. Dann verdreht sie sich auch noch den Fuß. Und das sieht richtig schlimm aus. Aber da mischen sich plötzlich Töne ins Geschehen.

Sol Gabetta hat angefangen, auf ihrem Cello zu singen. Der besorgte Puppenspieler nimmt nun seine Puppe, verbindet ihren Fuß, gibt ihr einen Apfel und liest ihr etwas vor. Ganz beschaulich sitzen sie nebeneinander. Genauso still wie die Kleinen im Saal, während Brahms mit seiner Sonate Nr. 1 in e-Moll für Cello und Klavier sich spielerisch in den Vordergrund drängt.

Um Alice aufzuheitern, pustet der Puppenspieler Luftballons auf. Einen blauen, einen grünen. „Noch einen“, ruft ein kleiner Junge. Die ersten sausen davon. Der dritte landet beim zweiten Satz von Brahms unter dem silberfarbenen Kleid der Cellistin, die ihn mal eben schnell Alice zurückkickt. Die Kinder lachen. Die Erwachsenen auch. Als der Puppenspieler am Schluss vergeblich versucht, den Ballon mit dem Cellobogen zu zerstechen und dann am Ballon hängend nach oben zu entschweben droht, gibt es kein Halten mehr. Die Kinder lachen sich kaputt und rufen gute Ratschläge auf die Bühne.

Nach 50 Minuten war der Zauber der Musik, der Zauber des Moments vorbei und doch noch da. Als es traurig war, hatten alle geschwiegen. Als es lustig war, hatten alle gelacht. Lärm gemacht hatte keiner. Auch den üblichen Applaus zwischen den Sätzen hatte es nicht gegeben. Das passte nicht. Dafür am Schluss stürmischen Beifall, auch für die stumme, störrische Alice, die mit ihren Glupschaugen ganz poetisch durch das Wunderland der Musik gewandert war – und mit ihr alle im Saal.

Kein artiger Zwischenapplaus, sondern stürmischer Beifall am Schluss

„Das war toll“, sagte Jana. „Ich hab’ mal auf die Puppe und dann auf die Musik geachtet“, sagte Mavie. Die zwölf Jahre alten Freundinnen spielen beide Cello und wollten nach dem Konzert natürlich ein Autogramm. Sol Gabetta kam – das Silberkleid hatte sie mittlerweile gegen eine Bluse und Leggings getauscht – und stürzte sich sofort ins Getümmel. „Ich freue mich schon darauf, euch als Duo in der Hamburger Laeiszhalle zu hören“, sagte der Weltstar und lächelte die Mädchen an, die zu perplex waren, um das Lächeln zu erwidern.

Nach dem Konzert am Vortag in Lübeck hatte Sol Gabetta nicht signiert. „Sie war angeschlagen. Sie konnte wirklich nicht“, sagte der Künstlerbetreuer beim abschießenden Empfang in der Remise des Marstall. Und was hatte die Cellistin kurz zuvor im Interview mit dem Abendblatt noch über Diplomatie gesagt? „Wenn ich mich nicht wohl fühle, fühle ich mich einfach nicht wohl.“

So eindeutig die Botschaften der Kinder beim Konzert waren, so eindeutig sind die Botschaften dieses Weltstars. Sie hat auch eine für alle, die schlecht auf ihrem Instrument sind. „Weiterspielen. Es ist gut für die Seele.“