Die Lütjenseerin Susanne Gebert hat eine Agentur für Bild-Biografie gegründet, damit das Wissen um die Vergangenheit erhalten bleibt

Lütjensee. Eine Familie wie aus dem Bilderbuch. Schön wär’s. Der Normalfall sieht anders aus. Dabei müssen es gar nicht Trennungen, Bruderzwist oder Erbstreitigkeiten sein. Es reicht schon das normale Schweigen und das Nichtwissen voneinander, das die Gegenwart belastet – und den Zugang zur Vergangenheit versperrt. Susanne Gebert hat es selbst erfahren. „Wer ist denn diese Frau da?“, fragte ihre Tochter. „Diese Frau“ war die Urgroßmutter des Mädchens. „Meine Tochter hatte keine Ahnung“, sagt die Lütjenseerin. „Das war wie ein Familien-Urknall.“

Das Ergebnis: Susanne Gebert wollte etwas dagegen tun, dass ihre Familiengeschichte verloren zu gehen drohte. Ihre Geschichte und die anderer. Denn die Lütjenseerin erkannte das Defizit und zugleich das Potenzial, machte sich selbstständig und gründete eine Agentur für Bild-Biografie. Mit ihrer eigenen Biografie fing sie an. So holte sie weitere Fotos hervor. Eine der Aufnahmen prangt jetzt auf einem Buch, das als Ergebnis der Familienrecherche herauskam. Das historische Foto zeigt vier Mädchen mit Spitzenkragen, dazu die Mutter im langen Kleid und den Vater in Uniform. Es ist eine Szene aus der Zeit des Ersten Weltkriegs.

Die Lütjenseerin wusste zum Glück, wen sie da vor sich hatte. „Das ist meine Großmutter Irmgard“, sagt Susanne Gebert und zeigt auf das ernst blickende Mädchen links im Bild. „Und das ist meine Urgroßmutter, die schöne Olga. Rechts ist ihr Mann Eugen.“ Das Bild ist kostbar, ein persönliches Dokument und ein Stück Zeitgeschichte.

Die beiden Töchter der Lütjenseerin wissen jetzt, wie ihre Ur- und ihre Ururgroßmutter hießen. Und sie wissen noch viel mehr. Denn zu den Bildern hat Susanne Gebert Anekdoten, Beschreibungen, Briefe und Erinnerungen gestellt. „Schwierig waren die Datierungen“, sagt sie. Oldtimerfans kamen ihr zu Hilfe. „Die sahen sich die Kühlerhauben und die Scheinwerfer an und wussten, ab wann das Modell vom Band gelaufen ist.“ So haben ihre Töchter auch erfahren, dass ihr Ururgroßvater Ingenieur war und der erste Autobesitzer in Chemnitz. Auch ihre eigenen Kinder werden es erfahren – und weitergeben.

Bild-Biografie hat Susanne Gebert dieses ganz besondere Buch genannt, das sie zum 100.Geburtstag ihrer Großmutter Irmgard fertiggestellt hat. 2010 war das. Mittlerweile sind weitere Bild-Biografien entstanden, für andere Familien überall in Deutschland.

„Oral History“ laute die englische Bezeichnung für ein Phänomen, das in hochindustriealisierten Ländern verschwinde: die mündlich überlieferte Familiengeschichte. „Früher wurde sie am Kaffeetisch weitererzählt“, sagt Susanne Gebert. „Aber die Arbeitswelt hat die Strukturen verändert.“ Heute lebten nicht mehr drei Generationen unter einem Dach. „Heute liegen oft Hunderte von Kilometern zwischen Großeltern und den jungen Familien.“ Wer war das? Wo war das? Das Raussuchen von Fotos könne zur Begegnung der Generationen beitragen.

Das älteste Foto, das sie in eine Bild-Biografie eingefügt hat, stammt von 1880. Auch Bilder vom Zweiten Weltkrieg und der Flucht aus Ostpreußen wurden ihr anvertraut. Gebert: „Es sind anrührende Geschichten.“ In einer anderen Familie hätten sich die Mitglieder schon ewig nicht gesehen. Jetzt telefonierten sie dreimal in der Woche.

„Ich kann keine Konflikte lösen, ich bin keine Psychologin“, sagt die promovierte Biologin, die die Gewinn-Maxime in der Pharmaindustrie nicht mehr aushielt und jetzt als geförderte Existenzgründerin Bilderbuch-Familiengeschichten erzählen will. „Wichtig sind vor allem die Geschichten. Damit Kinder nicht Foto-Alben aufschlagen und ihnen lauter Fremde entgegensehen.“