Hamid Rahimi aus Afghanistan ist ein angesehener Sportler geworden. Er dankt es seiner Mutter Fatima, die in Ahrensburg ein Geschäft hat

Ahrensburg. Es sei ihre Schuld, dass ihr Sohn so geworden sei, wie er ist, sagt Fatima Rahimi. Dass Hamid Menschen zusammengeschlagen, Drogen genommen, auf jemanden geschossen hat. Dass er ins Gefängnis gekommen ist. „Meine Schuld“, wiederholt die 61-Jährige und weint. Wer Hamid fragt, hört eine andere Seite: „Sie ist der Grund, dass ich mich nie aufgegeben habe. Sie hat immer zu mir gehalten.“

Ihre Schuld ist es also, dass Hamid Rahimi nun ist, wer er ist: ein Profiboxer, der am 12. April in London gegen Billy Joe Saunders kämpft. Wenn er gewinnt, wird er den amerikanischen World-Boxing-Organization-Weltmeister im Mittelgewicht, Peter Quillin, herausfordern. „I love my Mom“ steht auf einer seiner Boxhosen. Genäht hat die seine Mutter, Fatima Rahimi hat eine Änderungsschneiderei an der Großen Straße in Ahrensburg.

In der Schneiderei hängen Mäntel und Kleider, natürlich, aber es liegen auch Zeitschriften auf einem Tisch, aufgeschlagen auf den Seiten, auf denen Hamid Rahimi zu sehen ist, mit freiem Oberkörper und nach oben gereckten Fäusten. Bei einer ist Hamid auf dem Titel, „Pride of Afghanistan“ steht dort, der Stolz Afghanistans. „Die Hefte bringen mir meine Kunden mit“, sagt Fatima Rahimi. Ihr Sohn Hamid sitzt an diesem Tisch, seine Boxerhündin Tysi spielt mit einem Plüschtier. „Ich besuche meine Mutter oft“, sagt er. Dann bringt er Kleidung mit, die geändert werden muss, an diesem Tag ein T-Shirt. „Das kommt vom Boxen: Passen mir die Sachen an den Armen, sind sie am Bauch zu weit“, sagt er. Wenn er seine Mutter in Ahrensburg besucht, gibt es afghanisches Essen, diesmal Lammfleisch mit Kartoffeln. „Oft auch Reis“, sagt Fatima Rahimi, „den kaufe ich in einem afghanischen Geschäft am Steindamm in Hamburg in Säcken zu je fünf Kilogramm.“

Fünf Kilogramm. Nicht 50. Der Weg bis dorthin war weit. Fatima Rahimi stammt aus Afghanistan. „Dort war Krieg, ich habe nur große Säcke gekauft. Wir versuchten, so viele Lebensmittel wie möglich zu Hause zu haben. Den Reis habe ich hinter dem Bett vor den Soldaten versteckt. Ich hatte Angst, dass meine Kinder verhungern.“ Auch an dem Tag im Spätsommer 1983, an dem Hamid geboren wurde, war sie auf den Straßen unterwegs, um Reis zu kaufen. In der Nacht zuvor hatten Widerstandskämpfer einen Panzer abgeschossen. „Ein Sack Reis, glaubte sie, könne bei sparsamer Rationierung ein Kind mehrere Jahre am Leben erhalten“, schreibt Hamid Rahimi in seinem Buch „Die Geschichte eines Kämpfers“, das im vergangenen Jahr erschienen ist.

Als die Situation im Krieg unerträglich wurde, floh Fatima Rahimi mit ihren vier Kindern aus Afghanistan. „Eines Tages beschloss meine Mutter, dass das Leid, der Verlust und die Entbehrungen der Flucht aus der Heimat immer noch besser waren als im verwesenden Trümmerkadaver von Kabul auf den Tod zu warten“, heißt es in dem Buch. 1994 sei das gewesen. Fatimas Mann lebte damals bereits in Deutschland, er hatte schon zweieinhalb Jahre vorher das Land verlassen. „Sie hat es allein hierher geschafft, das war für eine Frau eigentlich fast unmöglich“, sagt Hamid Rahimi. Seine Mutter habe immer viel gekämpft.

„Sehen Sie mich an“, sagt sie. „So wie ich jetzt bin, bin ich auch in Afghanistan gewesen. Mein Vater hat sehr hinter mir gestanden, er war sehr demokratisch. In unserem Dorf gab es keine Schule für Mädchen, deshalb hat er eine Schule für mich und meine Schwester aufgemacht. Als ich neun Jahre alt war, bin ich in die erste Klasse gekommen.“

Einen Mann suchte er ihr trotzdem. „Er sagte: Dies ist dein Mann. Er hat versprochen, dass du studieren darfst.“ Sie habe immer Ärztin werden wollen. „Aber mein Mann hatte gelogen. ‚Du bist zu schlau, nachher bleibst du nicht bei mir‘, sagte er.“ Sie sei dann Lehrerin geworden und später Direktorin der Schule.

Diese Stellung half ihr dabei, die Flucht zu organisieren, ohne die richtigen Kontakte sei es damals kaum mehr möglich gewesen, Kabul zu verlassen. „Die Flucht hat so viel gekostet, ich musste die Schmuggler bezahlen und Pässe kaufen, danach war nichts mehr übrig“, sagt sie. „Sechs Monate habe ich gebraucht von Kabul bis hierher.“ Der Weg führte über Moskau und Prag nach Berlin – und von dort schließlich nach Hamburg-St. Georg, in eine Pension am Hansaplatz, in der ihr Mann damals arbeitete. „Das Zimmer war sehr klein, es gab keinen Platz zum Sitzen. Meine Tochter hat geweint und gefragt: Mama, warum sind wir hier?“ Nachdem sie Asyl beantragt hatten, zogen sie in eine Ein-Zimmer-Wohnung, dort lebten sie zahn Monate lang zu sechst. „Und dann sind wir umgezogen in eine Wohnung in Hamburg-Jenfeld, in der lebe ich noch heute.“

Damals sei das eine üble Ecke gewesen. „Dort hatte Hamid viele schlechte Freunde.“ Sie selbst arbeitete zeitweilig in fünf Jobs gleichzeitig, um Geld für ihre Familie zu verdienen, unter anderem als Zimmermädchen. „Die Zimmer zu putzen war okay, aber bei den Toiletten habe ich immer geweint.“ Auch für Hamid war das schwer. „Früher, in der Heimat, waren meine Eltern angesehene Leute, sie konnten mir Tipps geben. In Deutschland haben sie sich selbst nicht zurechtgefunden. Sie konnten nicht mal die Sprache. Wenn sie zum Zahnarzt wollten, sind sie beim Ohrenarzt gelandet“, sagt er. Hamids drei Geschwister haben studiert, „ich aber kam in schlechte Kreise.“ Seine Mutter macht sich bis heute Vorwürfe. „Er war klein, und er war allein. Und die Lehrerin mochte ihn nicht. Da ist er dann in die falsche Richtung gegangen. Das verzeihe ich mir nie.“

Hamid saß sieben Monate im Jugendgefängnis

Eines Tages im Jahr 2001 klingelte das Telefon. „Ich war bei der Arbeit, Hamid rief mich an und sagte: Mama, ich habe auf jemanden geschossen, kannst du kommen? Ich fuhr sofort los und sah keine roten Ampeln mehr. Das war eine sehr schwere Zeit.“ Hamid Rahimi hatte auf den vermeintlichen Vergewaltiger seiner Freundin geschossen, der überlebte, Hamid kam ins Jugendgefängnis. Dort sah er im Fernsehen einen Boxkampf von Dariusz Michalczewski, er beschloss, selbst zu boxen. Nach sieben Monaten wurde er entlassen und fing an, an seiner Sportkarriere zu arbeiten.

Mit Erfolg. Und mit Folgen. Im Jahr 2012 gewann er unter dem Motto „Fight for Peace“ den ersten Profiboxkampf in Afghanistan. Viele Menschen bewunderten ihn dort, „die Tickets waren innerhalb von zwei Stunden ausverkauft“, sagt Hamid. „Sportler sind gute Vorbilder, bessere als die Taliban.“

Er wolle etwas verändern, deshalb unterstützt er jetzt eine Schule in Kabul. „Meine Mutter hat mich auf die Idee gebracht“, sagt er. Ist wieder ihre Schuld.