Der Bargteheider Christoph Schlösser hält dem HSV seit 35 Jahren die Treue. Er begründete einst die Supporters mit

Einen HSV-Schal umlegen? Nein. Nicht einmal für ein Foto. „So gehe ich auch nicht ins Stadion“, sagt Christoph Schlösser. „Das bin ich nicht.“ Der Bargteheider ist keiner, der drauf haut. Keiner, der in Glanzzeiten Fahnen schwenkt und jetzt im Abstiegskampf auf die „Trümmertruppe“ schimpft und am liebsten alles hinschmeißen möchte. Er meint es ernst. Auch in schwierigen Zeiten. Gerade jetzt. „Ich würde dem Verein auch in die zweite Liga folgen“, sagt Christoph Schlösser ganz ruhig. Seit 35 Jahren geht er mit dem HSV durch Höhen und Tiefen. Und dabei bleibt es. „Für mich zählt Loyalität.“

Als er zehn Jahre alt war, sah er sein erstes HSV-Spiel live. Das war 1979 in Braunschweig. Es ging unentschieden aus. Als er 13 war, erlebte er das erste Heimspiel. Der HSV verlor 0:3 im Europapokal gegen Göteborg. Die Fan-Karriere fing schon problematisch an. „Aber am meisten hat mich damals irritiert, dass in der Westkurve aus Enttäuschung die HSV-Fahne verbrannt wurde“, sagt der Chemie-Ingenieur, der sich schon scheut, einen HSV-Schal zu schwenken. Er will mit solchen Krawallmachern nichts zu tun haben.

Der 13-jährige Christoph hatte natürlich auch auf einen Sieg gehofft. Trotzdem war er nicht in Tränen aufgelöst. „Das Volksparkstadion war so toll. Und die Atmosphäre! Ich hatte Adrenalin im Blut.“ Jetzt ist der Bargteheider 44 Jahre alt und muss mit ansehen, dass den HSV nur ein Punkt vom letzten Tabellenplatz trennt.

Beim Auswärtsspiel vergangene Woche war auch Adrenalin im Spiel. Aber nicht als Kick, sondern als Depri-Faktor. Die Hamburger kassierten ein 2:4. „Auf dem Weg zum Parkplatz hat keiner von uns geredet“, sagt Schlösser. „Im Auto ging die Diskussion dann aber wieder los.“ Die Diskussion. Nicht das Gemecker. „Ich mag Pauschalierungen nicht. Natürlich ist es schrottig auf dem Platz. Aber es ist nicht alles schlecht.“

Der HSV war immer erste Liga. Umso bitterer wäre der Abstieg

Am Anfang hätten die Jungs gegen Braunschweig gut gespielt. „Wir gehen in Führung und denken, wir packen das Ding auch ein“, schildert der Bargteheider wie ein Sportreporter den Spielverlauf. Er sagt „Wir“. Er trennt nicht zwischen sich und den Spielern auf dem Platz. Er ist voll dabei. Immer. Knapp 1000 HSV-Spiele hat der Bargteheider schon im Stadion erlebt. Der Verein war immer Erste Liga. „Das ist ja das Bittere. Und zwar nicht nur Erste Bundesliga.“ Schlösser zählt auf: Stadtliga, Norddeutsche Liga, Oberliga. „Und im Krieg Gau-Liga“, sagt er. „Merkwürdig. Gehört aber auch zur Vereinsgeschichte.“

Statt das Ding gegen Braunschweig vergangenen Sonnabend einzupacken, gab es auf die Mütze. „Wir denken, wir sind schon am rettenden Ufer“, sagt „Reporter“ Schlösser. „Und dann kommt kurz vor Schluss der Schlag in den Nacken.“ Das sei frustrierend gewesen. „Die vier Spiele zuvor haben wir alle zu Null verloren. Immerhin: Diese Serie haben wir gebrochen.“ Er macht eine Pause. „Das ist natürlich Galgenhumor“, sagt Schlösser – der Mann, der vor 14 Jahren den HSV Supporters Club mitgegründet hat, mit jetzt 70.000 Mitgliedern. „Sollten wir tatsächlich absteigen ...“ Wieder ein Pause. Diesmal eine noch längere. „... dreht sich die Welt trotzdem weiter.“ Jetzt herrscht im Wohnzimmer des Bargteheiders Stille. Kater Erik schaut herüber und gibt keinen Mucks von sich.

Vier Katzen wohnen bei den Schlössers. Der Hausherr, Ehefrau Anja, Sohn Simon, 16, und Tochter Sarah, 19, kümmern sich um die Vierbeiner, die aus dem Tierheim zur Familie gekommen sind. Sie sind die einzigen im Haus, die aus einleuchtendem Grund nicht in den Club eingetreten sind.

„Meine Kinder sind HSV-Mitglieder von Geburt an“, sagt der Bargteheider. Der Junge kickt und begleitet Papa zu den Spielen. Dauerkarten gehören zur Grundausrüstung. Tochter und Ehefrau lieben den Reitsport, sind aber auch Mitglied – aus Solidarität.

Ein gutes Stichwort für Christoph Schlösser. Er erinnert sich an die Saison 1997/98. „Jetzt erst recht“ lautete die Kampagne. Damals stand der HSV auf Platz 18. Schlösser: „Im Stadion herrschte eine unglaubliche Solidarität. Die Spieler holten gegen Hertha ein 1:1 raus.“ Danach ging es bergauf – am Ende auf Platz neun. Auf eine solche Wende hofft der Bargteheider auch jetzt. Seine Theorie: Es liegt nicht an der Qualität, sondern an der Mentalität.

„Wir müssen Werte vermitteln“, sagt der 44-Jährige, der schon einmal für den HSV-Aufsichtsrat kandidiert hatte, um Einfluss nehmen zu können. Die Stimmen reichten nicht aus. Noch einmal will er es nicht versuchen. Aber ändern müsste sich unbedingt etwas. Wer schlecht spielt, müsse auch mal auf eine Prämie verzichten oder auf einen schnellen Flug nach Hause. Schlösser: „Dann hieße es eben: Freunde. Hier steht Euer Bus. Gute Fahrt.“

Der Bargteheider kämpft bewusst gegen den Suchtfaktor HSV an

So wie sich vieles ändern müsste, so müsste eins auf jeden Fall bleiben. Die Fußballsparte dürfe nicht als Aktiengesellschaft ausgelagert werden. „Ich sehen keinen kausalen Zusammenhang, wie mit der Professionalisierung die Leistung besser werden soll“, sagt Schlösser und kommt bei aller Gefasstheit nun doch in Fahrt. „Geld schießt keine Tore. Wer spenden will, soll das Geld doch einfach so geben.“

Die Lage ist kritisch. Trauer trägt der Bargteheider trotzdem nicht. Wochenlang mit gesenktem Kopf umherzulaufen, könne er sich weder in der Firma und schon gar nicht in der Familie erlauben. Die Familie ist ihm wichtig. So wichtig, dass er bewusst gegen den „Suchtfaktor HSV“ ankämpft. „Ein No-Go ist für mich, wenn mein Sohn Fußball spielt oder meine Frau oder meine Tochter ein Reitturnier haben“, sagt Schlösser. Dann geht es auf keinen Fall ins Stadion.

Den Schnitt machte der Bargteheider, als 1994 seine Tochter geboren wurde und er seine Frau mit dem Kind aus dem Krankenhaus abholte. Hamburg spielte in Köln. Aber es ging nach Hause. Und die Serie war unterbrochen, nachdem Schlösser 160 HSV-Spiele in Folge gesehen hatte. „Es geht nicht um Fan-Rekorde. Es geht um Kontinuität.“ Er habe schon Fans gesehen, die fünf Jahre auf dem Platz waren und dann für immer verschwanden.

Der Bargteheider ist noch da. Er reist dem HSV nach wie vor überall hinterher. Auch in die Trainingslager, wie zuletzt nach Jakarta in Indonesien. Und er ist Groundhopper und „sammelt“ Stadien. 500 hat er schon zusammen. Vornehmlich von Vereinen, die bereits HSV-Gegner waren.

Und so werde es weitergehen. „Als Stevens neuer Trainer war, haben wir im Heimspiel gegen Dortmund gewonnen, danach gegen Bremen und Frankfurt“, sagt Schlösser und schaut erwartungsvoll. „Verstehen Sie? Die Parallele ist verrückt.“ Stimmt: Ein neuer Trainer ist da. Und die nächsten Paarungen sind exakt die gleichen. Schlösser: „Wenn das kein gutes Omen ist.“