Bank-Geheimnisse: Wir treffen Stormarner auf ihrer Lieblingsbank. Heute: Die blinde Bargteheiderin Annegret Walter, die sich für andere engagiert

Bargteheide. Als Annegret Walter erfuhr, dass sie blind sein wird, ging sie in die Grundschule. Dort, in Bargteheide, unterrichtete Frau Isebahn. Sie war ein Mensch, deren Namen Annegret Walter nicht vergessen hat, auch Jahrzehnte später nicht. Walter ist heute 72 Jahre alt. „Frau Isebahn hat entdeckt, dass ich nicht gut sehen kann, und das meiner Mutter erzählt“, sagt Walter. Ihre Mutter sei gar nicht auf die Idee gekommen, dass eines ihrer Kinder nicht gesund sein könnte.

„Von diesem Moment an war ich häufig in Krankenhäusern. Aber es gibt kein Mittel dagegen.“ Juvenile Makuladegeneration heißt die Krankheit, die bei Annegret Walter diagnostiziert wurde. „Die Netzhaut wird krank, die Zerstörung geht bis zur kompletten Vernichtung des Sehens. Der Gedanke daran war wie ein großes Ungeheuer. Wie ein Krake, der sagt: Ich packe dich, irgendwann bist du blind.“

In Deutschland gilt ein Mensch als blind, wenn er mit Brille oder Kontaktlinsen weniger als zwei Prozent dessen sieht, was ein normal sehender Mensch erkennt. „Bei mir war das mit Mitte 20 der Fall“, sagt Annegret Walter. „Zwei Prozent sind ein Reichtum. Ich konnte nicht lesen, aber ich konnte mich zurechtfinden.“ Wie es ist, nicht sehen zu können, ist schwer vorstellbar. „Ich erkenne kein Licht und auch nicht, dass hier ein Tisch steht. Ich weiß, dass auf meinem Tisch ein Blumenstrauß ist, aber ich weiß nicht, welche Farbe er hat.“ Es ist ein Strauß aus gelben und orangefarbenen Blüten. „Ah. Dann passt er ja gut zur Tischdecke.“ Welche Farbe diese hat, sagt ihr ein Farberkennungsgerät. „So weiß ich auch, ob Bluse und Hose zusammen passen. Ich trage gern Rottöne, die habe ich in guter Erinnerung.“ Ob das Licht brennt, erkennt das Gerät ebenfalls. „Auch blinde Menschen schalten das Licht ein. Das ist gut fürs Gemüt. Ein dunkles Haus wirkt unbewohnt. Außerdem will auch mein Hund nicht im Dunkeln sein.“

Für ihren Einsatz bekam Annegret Walter das Verdienstkreuz am Bande

Der Hund heißt Da Vinci. Er ist ein schwarzer Großpudel, sehr fröhlich und sehr gut erzogen, Letzteres kommt mit dem Job. Da Vinci wurde zum Blindenführhund ausgebildet, Annegret Walter hat ihn von der Krankenkasse bekommen. „Er führt mich ganz sicher und bedeutet so viel Freiheit für mich“, sagt sie – und nutzt die Gelegenheit, Bargteheide zu loben. „Die hohe Akzeptanz hier ist wundervoll. Die Leute sind sehr respektvoll und streicheln ihn nicht einfach. Das ist wichtig, da er ja arbeiten soll. Er muss sich konzentrieren, etwa auf den Straßenverkehr.“ Doch Da Vinci kann nicht bei allem helfen, deshalb gibt es bei Annegret Walter zu Hause weitere Hilfsmittel. „Ich habe eine Ansage, die mir erzählt, wie warm oder kalt es draußen ist. Einen Einkaufsfuchs, der erkennt, ob ein Glas Sauerkirschen oder Rotkohl enthält. Eine abtastbare Uhr. Und eine Personenwaage, die laut und deutlich sagt, was ich wiege.“

Welche Hilfsmittel es gibt, erfuhr Annegret Walter im Blindenverein. „Auf der Blindenschule in Hamburg wurde mir gesagt, wie wichtig der Verein ist. Mit 20 Jahren bin ich eingetreten.“ Dort habe sie viel gelernt. „Ich habe mich aufgehoben gefühlt. Deshalb wünsche ich mir, dass alle Menschen, die von Blindheit bedroht sind, sich an Vereine in ihrer Nähe wenden können.“ Das Besondere an Annegret Walter ist vielleicht, dass sie es nicht beim Wünschen belässt. Wer aufzählen will, wo sie sich ehrenamtlich engagiert, braucht etwas Zeit.

Seit 1960 setzt sie sich für blinde und sehbehinderte Menschen ein, seit 1985 war sie im Landesvorstand des Blinden- und Sehbehindertenvereins Schleswig-Holstein, den sie bis Juni dieses Jahres leitete. Sie baute die Stiftung Sehnot auf, die sich um Spenden kümmert. Sie ist in der Bürgerberatung Bargteheide als Ansprechpartnerin für die Themen Blindheit und Sehbehinderung verantwortlich. Sie gründete einen Gesprächs- und Vorlesekreis. Sie engagierte sich im Vorstand der Norddeutschen Blinden- und Hörbücherei. Sie entwickelte mit der Kirchengemeinde Bargteheide Projekte, die Blinden die Kommunikation erleichtern sollen. Sie war mehrfach Mitglied des Altenparlaments des Landtags in Schleswig-Holstein. Und seit 2011 ist sie ehrenamtliche Richterin am Sozialgericht Lübeck. Diese Aufzählung ist unvollständig.

Für ihren Einsatz wurde sie häufig geehrt, unlängst bekam sie das Verdienstkreuz am Bande und den Deutschen Bürgerpreis für Schleswig-Holstein in der Kategorie Lebenswerk. „Ich habe immer gesagt: Ach, Quatsch, Ehrungen... Aber das ist schon was Großes und tut gut“, sagt sie. Dennoch: Den Vorsitz im Blindenverein hat sie bereits abgegeben, als ehrenamtliche Richterin wird sie bis Ende des Jahres arbeiten. „Dann mache ich das Buch zu, dann sind andere dran.“

Annegret Walter redet lieber über ihre Ehrenämter als über sich selbst

An all die Jahre Ehrenamt erinnert sie sich gern. „Aber ich habe viele traurige Geschichten mit nach Hause genommen. Das war für meine Familie nicht einfach.“ Familie, das sind ihre drei Söhne und die Enkelkinder. So gern sie über ihre Ehrenämter redet, so ungern spricht sie über sich. „Das muss doch keiner wissen“, sagt sie. Bei der Rede anlässlich der Verleihung des Bürgerpreises hieß es, Annegret Walter sei eine so bescheidene Frau, dass ihr die Laudatio sicher peinlich sei. Aber eines erzählt sie dann doch: Es sei nicht leicht, als blinder Mensch einen Partner kennen zu lernen. Sie aber habe nicht allein leben müssen. „Das ist ein großes Glück. So ist das: Wenn man nicht sehen kann, wird man gesehen.“