Im Missbrauchsprozess gegen Stormarner berichten Opfer, was sie erlebten – und warum sie so lange schwiegen

Bad Oldesloe/Lübeck . Sie stockt immer wieder beim Sprechen. Das, was Madeleine F. ( alle Namen geändert) der Richterin erzählen soll, ist so leicht nicht in Worte zu fassen – die Erinnerung scheint ihr nur schwer zu gelingen. Mit einem Taschentuch tupft sich die 20-Jährige Augen und Nase. Heute sagt sie gegen den ehemaligen Lebensgefährten ihrer Mutter aus.

Seit vergangenem Donnerstag muss sich der 47-jährige Frederik-Josef M. , der lange in einem Dorf bei Bad Oldesloe gelebt hat, vor dem Landgericht Lübeck verantworten. Ihm wird vorgeworfen, zwischen 1992 und 2003 seine drei leiblichen Kinder und zwei Töchter seiner ehemaligen Partnerin F. sexuell missbraucht zu haben. Angeklagt sind sieben Fälle.

Kurz bevor sie ihre Aussage beginnt, muss Madeleine den Gerichtssaal noch einmal verlassen: Beim Anblick des Angeklagten bricht sie in Tränen aus. Frederik-Josef M. sitzt in schräger Haltung auf seinem Stuhl, das zu große Jackett fällt schlaff über die Sitzfläche.

Sein schütteres Haar hat er sich in den Nacken gekämmt. Sein Gesicht ist aufgequollen: Zehn Jahre Arbeitslosigkeit und Wodka („Ich trinke jeden Tag eine halbe Flasche“) lassen ihn 20 Jahre älter wirken. Während der gesamten Verhandlung fixiert er einen Punkt auf dem Tisch. Nur nicht aufblicken, scheint er zu denken.

Madeleine erzählt von einem Ereignis aus dem Jahr 2003. Damals war sie zehn Jahre alt. M. habe sie am frühen Morgen geweckt, um Pornofilme mit ihr anzusehen. Sie habe zunächst nicht gewusst, was das für Filme seien, sagt Madeleine. Als M. sie aufforderte, sich auszuziehen, habe sie Angst bekommen. Schon zuvor habe er oft geschrien, ihr Schläge angedroht. Deshalb habe sie getan, was er sagte.

Der damalige Partner ihrer Mutter habe sie und sich selbst angefasst, während der Rest der Familie im Nebenzimmer schlief. „Erst als im Flur das Licht anging, durfte ich mich wieder anziehen.“ Man merkt, dass die ständigen Nachfragen der Richterin Helga von Lukowicz die Zeugin irritieren. Doch sie erzählt von zwei weiteren Vorfällen. Satz für Satz presst sie heraus, pausiert, redet, pausiert.

Ruth F., Madeleines Mutter, war 2003 mit ihren Töchtern für ein halbes Jahr zu M. nach Henstedt-Ulzburg gezogen. Madeleine und ihre Schwestern teilten sich ein Zimmer, zwei Söhne M.s ein anderes. Im Zeugenstand sagt F. aus, sie sei aus finanziellen Gründen mit dem Angeklagten zusammengezogen. Eine Beziehung habe es kaum gegeben, wenige Monate später zog F. mit ihren Kindern zurück nach Göttingen. M. habe „schubweise massiv auf Dinge reagiert“, sagt Ruth F. Vom Schicksal ihrer Töchter habe sie zu dem Zeitpunkt aber nichts gewusst.

Auch Madeleines Schwester Tanja, 19, wird als Zeugin vernommen. Sie kann oder möchte sich ungern an das erinnern, was ihr mit neun Jahren widerfahren ist, nennt keine Details. Jahre später habe sie mit Madeleine über ihre Erfahrungen gesprochen, sagt sie. Sie hatten sich jedoch geschworen zu schweigen. Nur ihre ältere Schwester war eingeweiht – auch sie versprach, nichts zu erzählen.

Frederik-Josef M. wurde in Ahrensburg geboren. Zwei Jahre habe er mit seinem Vater, einem Seemann, in den Tropen gelebt. Zurück in Deutschland macht er die mittlere Reife. Auch er heuert als Matrose an. Absolviert die Steuermannschule. Irgendwann lernt er eine Frau kennen, heiratet, das Paar bekommt drei Kinder. 1993 lässt sie sich scheiden. Seit zehn Jahren hat er keinen Kontakt mehr zu seinen Kindern. „Will ich auch nicht mehr“, nuschelt er. Von seiner Tochter, so behauptet er, sei er nicht der leibliche Vater. Vielleicht, weil sie es wagte, ihn anzuzeigen.

Erst dadurch erfährt Ruth F. von den Anschuldigungen gegen ihren ehemaligen Partner. 2007 ruft eine Polizistin bei ihr an und fragt, ob sie wisse, was der Tochter M.s widerfahren sei. Sie verneint. Tanja habe das Gespräch mitgehört und plötzlich zu weinen angefangen, erzählt die Mutter im Zeugenstand. Da habe sie den Hörer an die Tochter weitergegeben. Angehört, wie Tanja alle Fragen der Beamtin mit Ja beantwortet habe.

Ruth F. sagt, sie habe mit ihren Töchtern nie über die Vorwürfe geredet. „Ich wollte sie in Ruhe lassen“, sagt sie, und wirkt dabei fast trotzig. Außerdem sagt sie, sie habe ab der zweiten Woche des Zusammenlebens jede Nacht im Wohnzimmer geschlafen. Auf den Hinweis der Richterin, dass genau in diesem Raum ihre Töchter missbraucht wurden, reagiert sie mit einem „Ah“.

Nach den Zeugenaussagen verliest das Gericht die Vernehmungsberichte der Polizei. Einige Aussagen widersprechen denen aus den Protokollen von vor knapp zwei Jahren. Am Mittwoch, 2. Oktober, wird der Prozess fortgesetzt.