Ahrensburger Familie bekommt horrende Stromrechnungen und krempelt ihr Leben um. Schuld an ihrem jahrelangen Leid war das Ablesegerät

Ahrensburg. Fernsehen? Nein. Warm duschen? Möglichst nicht. Wäsche waschen? Nur, wenn es sich partout nicht vermeiden lässt. Essen im Backofen zubereiten? Unmöglich. Roland Leunig hat sich bereits mit nahezu allen erdenklichen Einschränkungen abgefunden. Als er dann abends im schummerigen Licht einer kleinen Glühbirne hockt und nicht mehr weiß, was er noch machen kann, und als sich der Stromzähler im Keller trotzdem noch so schnell dreht wie ein Karussell – da ist er am Ende. Fast alles verloren haben er und seine Frau Birgit zu diesem Zeitpunkt schon: die Ersparnisse, die Freude am Leben, um ein Haar auch den Verstand. Wie kann es sein, dass ein Einfamilienhaus mit 126 Quadratmeter Wohnfläche so viel Strom verbraucht wie der Bauernhof mit all den Stallungen am anderen Ende der Stadt?

„Irgendwann habe ich die Sicherung rausgedreht und geguckt, ob dann vielleicht auch die Straßenbeleuchtung ausgeht“, sagt Leunig heute. „Man wird ja paranoid.“ Und fügt schnell hinzu: Natürlich seien die Laternen nicht erloschen. Aber es hätte ja sein können …

In Wirklichkeit, das hat der 50 Jahre alte Polizist aus Ahrensburg seit Kurzem Schwarz auf Weiß, ist nur der Stromzähler kaputt gewesen. In einem an das Ehepaar Leunig adressierten Schreiben der Schleswig-Holstein Netz AG heißt es: „Die Prüfung bei der staatlich anerkannten Prüfstelle für Messgeräte für Strom hat ergeben, dass das Gerät die gesetzlichen Anforderungen nicht einhält.“ Und: „Die Verrechnung des Energieverbrauchs darf damit über diesen Zähler nicht vorgenommen werden.“ Leunig seufzt. So einfach ist die Lösung also. „Dabei haben mir alle gesagt: Ein Stromzähler geht nie kaputt.“

Aber es kommt vor. Herbert Weit, technischer Vorstand der Eichdirektion Nord in Kiel, sagt auf Abendblatt-Anfrage: „Ich schätze, dass 0,5 bis 1,5 Prozent aller Stromzähler nicht richtig anzeigen.“ Verglichen mit anderen Messgeräten sei das recht wenig, fügt er hinzu, grundsätzlich liefen die heute noch größtenteils verwendeten analogen Geräte „ziemlich stabil“. Trotzdem: Es kommt eben vor. Das weiß auch Julia Buchweitz von der Verbraucherzentrale Schleswig-Holstein. „Man erkennt die Defekte eigentlich nicht“, sagt sie.

Es ist wie bei den Leunigs. Für sie beginnt der Ärger im August 2011 mit dem Umzug in das Einfamilienhaus, Baujahr 1938, an der Hamburger Straße in Ahrensburg. „Es war unser Traumhaus“, sagt Birgit Leunig, 47, rückblickend. Der Stromzähler ist ganz neu, erst vor zwei Monaten sei er eingebaut worden, sagt der Vermieter. Zum Jahreswechsel kommt das böse Erwachen: 571 Euro sollen sie nachzahlen, der Abschlag wird von monatlich 95 auf 150 Euro raufgesetzt, wenig später auf 291 Euro. „Zeitweise haben wir 50 Kilowattstunden an einem Tag verbraucht.“

Er stellt die Lebensgewohnheiten auf den Prüfstand. Die Töchter werden ermahnt, sparsamer zu sein. Fernseher, Waschmaschine, Wäschetrockner, Backofen laufen kaum noch. Als die nächste Stromrechnung kommt, ist von einem Jahresverbrauch von 15.400 Kilowattstunden die Rede. Leunigs sollen 1800 Euro nachzahlen, der Abschlag wird auf 420 Euro im Monat erhöht.

Da reicht es dem Polizeibeamten. Ein Energieberater hat inzwischen errechnet, dass es selbst dem verschwenderischsten Menschen gar nicht möglich sei, in dem Haus mehr als 6800 Kilowattstunden zu verbrauchen. Leunig wendet sich an seinen Stromversorger, die E.on-Tochter Stromversorgung Ahrensburg. „Die haben mir gesagt: Ja, da stimmt offenbar irgendetwas nicht. Aber das sei nicht ihr Problem.“

Die Beweislast liegt beim Kunden. Julia Buchweitz von der Verbraucherzentrale kennt das Problem: „Wer sich sicher ist, dass sein Stromzähler kaputt ist, sollte das Eichamt hinzuziehen.“ Es gebe mehrere mögliche Defekte. So könne sich der Zähler etwa zu schnell drehen. Er könne sich weiterdrehen, wenn alle Geräte abgestellt seien. Denkbar sei auch ein 1000er- oder 10.000er-Sprung in der Spule – vergleichbar mit einem Auto, dessen Kilometerzähler von 9999 nicht auf 10.000, sondern auf 100.000 umspringt. „Man muss den Prüfer möglichst genau darauf hinweisen, welchen Verdacht man hat.“

Die Leunigs zögern, einen Eichexperten hinzuzuziehen. Eine Prüfung kostet gut 150 Euro. „Wäre der Zähler in Ordnung gewesen, hätten wir das auch noch zahlen müssen“, sagt Leunig heute. Dann machen sie es doch. Es ist der 18. Juni dieses Jahres, als ein Mitarbeiter der „Staatlich anerkannten Prüfstelle für Messgeräte für Elektrizität EM 112" bei den SWN Stadtwerke Neumünster GmbH sein Siegel unter Prüfschein 192/2013 setzt. Der entscheidende Satz hat vier Wörter: „Bremsmagnet zu geringe Wirkung“. Im Anschreiben der Schleswig-Holstein Netz AG heißt es dazu: „Selbstverständlich übernehmen wir die Kosten für die Auswechselung und Prüfung Ihres Zählers. Für die entstandenen Unannehmlichkeiten bitten wir Sie um Entschuldigung.“

Damit scheint der Fall abgeschlossen. Für die Leunigs ist er es mitnichten. Roland Leunig wartet bis heute vergebens darauf, dass ihm die Stromversorgung Ahrensburg die zu viel entrichteten Gebühren erstattet, nach seiner Berechnung mindestens 4000 Euro. Eine Entscheidung könnte jedoch bald fallen: „Man hat mir zugesichert, dass unsere Abrechnung noch in dieser Woche bearbeitet wird“, sagt Leunig. Der Polizeibeamte pocht neben der Rückerstattung der Gebühren auf angemessenen Schadenersatz. Denn den Mietvertrag für das Haus, das eigentlich ihr Traumhaus gewesen ist, haben die Leunigs wenige Tage vor Zustellung des Eichberichts gekündigt – aus mangelndem Vertrauen in ihr Heim.