Initiative „Trau dich“ ermutigt dazu, Grenzen zu setzen. Theaterstück zeigt in Bargteheide, dass auch Schlabberküsse nicht geduldet werden müssen

Bargteheide. Vladimir ist zehn Jahre alt und hat ein Problem: seine Oma. Die verteilt Schlabberküsse, sagt Vladimir, außerdem nennt sie ihn „Purzelbäumchen“, beides sei furchtbar. Vladimir ist ausgedacht, er ist eine Figur aus dem Theaterstück „Trau dich“, einem Element der gleichnamigen bundesweiten Initiative, die sexuellen Kindesmissbrauch verhindern will. Das Stück wurde jetzt vor Schülern der dritten bis sechsten Klasse im Kleinen Theater in Bargteheide aufgeführt.

Nun sind Schlabberküsse von der Oma kein sexueller Missbrauch, aber Vladimir mag sie trotzdem nicht. „Als Vorbereitung auf das Stück haben wir drei Monate mit Kindern gearbeitet. Viele haben von solchen Omas erzählt, die zu viel küssen. Wir haben gedacht, das sei eine gute Geschichte für eine erste Grenzverletzung“, sagt Charlotte Baumgart von der Theatergruppe Kompanie Kopfstand, die das Stück seit Mai aufführt. Und wirklich: Als Vladimir auf der Bühne von seiner Schlabberkuss-Oma erzählt, sagen fast alle Kinder im Publikum „Äääääähh“. Laut. Und sie wollen helfen. Denn Vladimir muss überlegen, wie er seiner Oma das sagen kann. Zum Glück ist er nicht allein, in Bargteheide haben einige der 250 Schüler Ideen. „Du kannst ihr einen Brief schreiben“, sagt ein Mädchen. „Oder sie selber abschlabbern, das mag sie bestimmt auch nicht.“

Vier Szenen hat das Theaterstück, in jeder erzählt ein Kind von seinem Problem. Lucas’ Problem ist schwerer zu lösen als Vladimirs: Er wurde von seinem Schwimmlehrer missbraucht und weiß nicht, wem er sich anvertrauen soll. „80 bis 90 Prozent der Täter sind aus dem engeren Umfeld des Kindes, sagt Irmela Reynders von der Evangelischen Beratungsstelle Stormarn. „Wie darauf reagiert wird, hängt immer auch davon ab, wer sich an uns wendet: Lehrer, Eltern oder auch das Jugendamt.“ Der Weg zur Anzeige sei leichter, wenn der Täter ein Fremder sei.

Im Jahr 2012 wurden in Schleswig-Holstein 449 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch angezeigt, 374 wurden aufgeklärt. Im vergangenen Jahr waren es 466 Fälle, davon konnten 409 aufgeklärt werden. Allerdings geht die Polizei davon aus, dass eine hohe Zahl sexueller Übergriffe nicht angezeigt wird. Oft wenden sich Menschen erst Jahre später an Beratungsstellen.

Damit sich das ändert, soweit wie möglich, haben das Bundesfamilienministerium und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) die Initiative „Trau dich“ gestartet. Ziel ist, Kinder über Beratungsangebote zu informieren und sie zu ermutigen, diese auch in Anspruch zu nehmen. Schleswig-Holstein ist das erste Bundesland, das eine Kooperation mit der Initiative eingeht. Beteiligt sind unter anderem das Bildungsministerium in Kiel sowie Fachberatungsstellen, das Büro für schulische Prävention, Kinderschutzzentren und der Deutsche Kinderschutzbund.

„In Vorbereitung auf das Theaterstück gibt es Informationsabende für die Eltern“, sagt Bettina Brünner, die Projektkoordinatorin. „Viele haben vorher Bedenken, ob sie ihrem Kind dieses Thema zumuten wollen. Bei den Abenden werden dann Mitschnitte des Theaterstücks gezeigt.“ Außerdem gibt es Fortbildungsveranstaltungen für Lehrer. Wie das Thema an den Schulen vor- und nachbereitet werde, sei verschieden. „An einer Schule in Bad Oldesloe gab es zum Beispiel gerade eine Projektwoche“, sagt Brünner. Bis Ende 2014 tourt das Theaterstück durch Deutschland, insgesamt sollen so 25.000 Kinder erreicht werden, 4000 davon in Schleswig-Holstein.

„Bei den Theaterstücken sind immer auch von Missbrauch betroffene Kinder dabei“, sagt Brünner. „Eine Lehrerin aus Kiel hat berichtet, dass sich nach dem Theaterstück zwei Kinder an sie gewendet haben, um ihr von Übergriffen zu erzählen.“ Falls sie sich zunächst nicht trauen, jemanden anzusprechen, können sie unter www.trau-dich.de im Internet mehr über ihre Rechte erfahren. Dort werden auch Ansprechpartner genannt, etwa die kostenfreie Nummer gegen Kummer (Telefon 0800/111 03 33). Eltern können sich im Internet unter www.multiplikatoren.trau-dich.de über die Tourdaten informieren sowie ein Video über die Inhalte des Stückes ansehen.

Eigentlich, sagt Charlotte Baumgart von der Theatergruppe, müsse man das Stück auch für Erwachsene machen. Für alle Eltern, die Bedenken haben, dass das Thema nichts für ihr Kind sei. „Und für die küssenden Omas.“