Stormarner Therapeutin Ellen Schwarz-Wiegert rät Kollegen, bei Alkohol- oder Tablettenmissbrauch zu reagieren. In zehn Jahren ist die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage um 17 Prozent gestiegen.

Ahrensburg. Der Mann, der in diesem Text Peter heißen soll, hat 20 Jahre Alkohol getrunken - und davon viel zu viel. Erst Bier, dann reichte das nicht mehr. Erst nur am Abend, dann auch morgens. Gearbeitet hat der Stormarner in all den Jahren in einem Logistikunternehmen, angesprochen wurde er auf sein Problem nie.

Peter ist keine Ausnahme. Menschen melden sich zunehmend wegen Suchtproblemen krank, das berichten derzeit die Krankenkassen. Innerhalb von zehn Jahren ist die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage um 17 Prozent auf 2,42 Millionen im Jahr 2012 gestiegen. "Mit Abstand die meisten Fehltage sind auf Alkoholsucht und Rauchen zurückzuführen", schreibt die Krankenkasse AOK in ihrem Fehlzeiten-Report 2013, für den Daten von 2000 Erwerbstätigen ausgewertet wurden.

Menschen in Schleswig-Holstein haben ein vergleichsweise großes Problem mit Alkohol, das geht aus dem Gesundheitsreport 2012 der Barmer GEK hervor. 1,3 Prozent aller Beschäftigten im Alter von 15 bis 64 Jahren haben im Jahr 2010 die Diagnose F10 gestellt bekommen: psychische und Verhaltensstörungen durch Alkohol. Schleswig-Holstein liegt damit auf Platz fünf der Bundesländer hinter Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg, Bremen und Berlin. Im Gesundheitsreport heißt es: "Erwerbspersonen mit Wohnort in Schleswig-Holstein waren 2010 nach Auswertungen zu Diagnosen aus der ambulanten und stationären Versorgung um 12,6 Prozent häufiger als im Bundesdurchschnitt von diagnostizierten Alkoholproblemen betroffen."

Für einzelne Kreise oder Gemeinden gibt es keine Zahlen. Wer mehr über die Situation im Kreis Stormarn wissen will, muss jemanden fragen, der sich auskennt. Ellen Schwarz-Wiegert, 64, zum Beispiel. Sie ist seit 13 Jahren Suchttherapeutin in Stormarn und leitet die Suchtberatungsstellen Ahrensburg und Bad Oldesloe des Vereins Therapiehilfe. Bei ihr ist auch Peter in Behandlung. "Er ist ein freundlicher und unauffälliger Mann. Verheiratet, keine Kinder, ein Hund." Wegen seiner Sucht habe er sich immer weiter zurückgezogen, sein Leben habe aus Arbeiten, Trinken und Schlafen bestanden.

"Viele wollen Suchtprobleme eher an den Rand der Gesellschaft verorten. Aber so ist das nicht. Bei uns bekommen mehr als 30 Prozent der Klienten Lohn oder Gehalt, und fast neun Prozent beziehen Arbeitslosengeld I, haben also gerade erst ihre Arbeit verloren." Zu den Menschen, die sich bei Ellen Schwarz-Wiegert beraten lassen, zählen Ärzte, Führungskräfte, Arbeitslose, Rentner, Auszubildende. "Oft haben gerade leistungsfähige, hochintelligente Menschen, die viel Verantwortung tragen, ein Problem damit, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen."

Experten schätzen, dass jeder fünfte bis zehnte Mitarbeiter in einem Unternehmen riskante oder problematische Mengen Alkohol konsumiert. Das geht aus der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS) des Robert-Koch-Instituts hervor. Eine riskante Menge Alkohol wäre für Frauen etwa 12 bis 40 Gramm und für Männer 24 bis 60 Gramm täglich - mehr gilt als problematischer Konsum. Eine Flasche Bier (330 Milliliter) hat etwa 12,7 Gramm Alkohol.

Auch in Stormarn ist Alkohol das größte Problem im Bereich Abhängigkeit. Von den im Jahr 2012 bei der Sucht- und Drogenberatungsstelle in Ahrensburg und Bad Oldesloe betreuten 704 Menschen kamen fast 58 Prozent wegen übermäßigen Trinkens. An zweiter Stelle steht Cannabis mit etwa 18 Prozent.

"Auch Medikamente spielen eine ganz wesentliche Rolle", sagt Ellen Schwarz-Wiegert. "Aber Medikamentenmissbrauch geschieht sehr heimlich. Es betrifft viele Frauen, die Tabletten nehmen, um funktionieren zu können: Tavor zum Beispiel, ein starkes Psychopharmakon." Tavor gehört zu den Benzodiazepinen, ist stark angstlösend und wirkt beruhigend. "Dass es so viele Menschen gibt, die jahrelang mit ihrer Sucht leben, hängt auch mit dem Umfeld zusammen, das mitspielt. Angehörige und Kollegen sollten das Problem thematisieren. Oft ist dies eine Motivation für die Betroffenen, sich Hilfe zu suchen", sagt Schwarz-Wiegert. So wie eine Ärztin, die erst ihre Approbation verlieren musste, bevor sie sich an die Stormarner Suchtberatung wandte. Und so wie Peter.

Sein Problem ist aufgeflogen, weil er in eine Polizeikontrolle geriet: Er hatte 1,9 Promille. In der Zeit kam einiges zusammen, auch seine Frau sagte, dass sie sich trennen würde, wenn er sein Problem nicht in den Griff bekäme. Nun ist Peter seit neun Monaten in ambulanter Rehabilitation. Ein großes Thema während der Sitzungen ist Peters Situation am Arbeitsplatz.

"Der Alkohol war ja ein Problemlösungsversuch. Es ist wichtig, den Grund für die Sucht herauszufinden. Für ihn war es seine Unsicherheit. Er hatte Schwierigkeiten, sich abzugrenzen und wollte gemocht werden. Die Folge war, dass er immer mehr Arbeit übernahm." Nun lernt er, Nein zu sagen. Und er trinkt nicht mehr. "Es lohnt sich, Hilfe zu suchen", sagt Ellen Schwarz-Wiegert. "Zwei Drittel unserer Patienten erleben eine deutliche Verbesserung ihrer Situation." Dabei muss es nicht immer eine langfristige Betreuung sein. "Manchmal reicht es auch, einmal zum Beratungsgespräch zu gehen, um einen neuen Denkanstoß zu bekommen."