Ex-Guantánamo-Häftling Murat Kurnaz erzählt in Bargteheide von seinem Schicksal

Bargteheide. Eine schöne Frau taucht auf der Leinwand auf und verspricht himmlischen Genuss: fünf süße Küsse. Das Publikum im Kinosaal lacht. Das ist wohl nicht der richtige Film. Nein. Im richtigen Film geht es nicht um fünf süße Langnese-Sorten, sondern um die brutale Wirklichkeit - um "Fünf Jahre Leben" im US-Gefangenenlager Guantánamo. Um Folter. Um Psychoterror. Um Rechtsbruch und Menschenrechtsverletzungen. Und um das Schicksal des in Bremen aufgewachsenen Türken Murat Kurnaz. Als der Film zu Ende ist, herrscht Totenstille im Bargteheider Cinema Paradiso. Dann wieder Lachen. Das hilflose Lachen einer Frau, die versucht, das gerade Gesehene irgendwie abzuschütteln.

Kinopächter Hans-Peter Jansen hat für den Start ins "digitale Zeitalter" harte Kost ausgewählt. Aber er liegt richtig. Der Saal bei der Premiere der neuen Vorführtechnik ist voll. Im Publikum auch Claudia Roth. Die Bundesvorsitzende der Grünen ist gekommen, weil der Kinoauftakt nach der Sommerpause zugleich eine Wahlkampfveranstaltung der Stormarner Parteifreunde ist. Unter dem Eindruck der Bilder geht sie mit erhitzten Wangen auf die Bühne, um sich den Fragen zu stellen. "Ich habe den Film schon in München gesehen", hatte sie vorher gesagt. "Er geht bis an die Grenze dessen, was ein Zuschauer ertragen kann."

Wie ist es da Kurnaz ergangen, der all das erlebt hat? Er wurde zusammengeschlagen, erniedrigt und in Isolationshaft gesteckt. Eingesperrt in einer gleißend-weißen Einzelzelle, in der Kälte seinen Bart gefrieren ließ. In der Wüsten-Temperaturen ihn fast umbrachten und in der die Beschallung mit kreischender Musik ihn an den Rand des Wahnsinns trieb.

Der Film von Regisseur Stefan Schaller zeigt Unfassbares und vermittelt zugleich den Eindruck, er zeige nicht alles. "Im Prinzip stimmt das so. Aber es war noch drastischer", bestätigt Kurnaz. Den Film tat er sich nicht an. Nicht noch einmal. Kurnaz erscheint erst nach dem Abspann. "Wie hält einer das aus", will Ruth Kastner, die Landesvorsitzende der Grünen, von ihm wissen. "Ich bin froh, dass ich es geschafft habe. Nicht jeder ist heil rausgekommen", kommt die Antwort ganz ruhig. Er habe versucht, sich körperlich fit zu halten. Schon seit seinem siebten Lebensjahr mache er Kampfsport, sagt der 31-Jährige, mit Oberarmen wie ein Bodybuilder und der Figur eines Action-Darstellers. Aber auch das Gebet habe geholfen. Könne man in Guantánamo denn noch an Gott glauben? "Ich habe es als Prüfung angesehen."

2001 war Kurnaz nach Pakistan geflogen, um sich einer orthodoxen Bewegung anzuschließen. Bei einer Kontrolle nahmen ihn Sicherheitskräfte fest und übergaben ihn gegen "Kopfgeld" an die US-Streitkräfte in Afghanistan. Unter Terrorverdacht wurde er nach Guantánamo verlegt und bis 2006 festgehalten - ohne Anklage.

"Ich hatte keinen Kontakt zur Außenwelt. Ich durfte niemanden sehen. Ich hatte keine Ahnung, ob meine Eltern überhaupt wissen, wo ich bin." Claudia Roth sieht Kurnaz an und hält es kaum aus. Sie sei damals Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung gewesen. Und auch sie habe keine Ahnung gehabt. "Ich musste erfahren, dass Kurnaz nicht in Deutschland aufgenommen wurde", sagt die Grünen-Chefin. "Ich schäme mich zutiefst." Sie selbst habe sich bei ihm entschuldigt. Es sei höchste Zeit für eine moralische Entschädigung. "Und wir müssen uns gegen die Erosion des Rechtsstaates wehren, sonst verlieren wir ihn."

Parteifreund Konstantin von Notz bringt das Beispiel vom Geheimdienstler Snowden. "Die USA betonen, sie werden ihn nach einer Auslieferung nicht foltern", sagt der Bundestagsabgeordnete. "Wieweit kann ein demokratischer Staat sinken?" Aus dem Saal kommt ein Zuruf. Was wollen die Grünen denn nach der Wahl dagegen tun? Man passe auf, man schalte sich ein. Und man schaffe es nur gemeinsam.

Die Antwort genügt vielen nicht.

Kurnaz antwortet auf alles ganz direkt. Er sei Schiffsbaumechaniker. Er sei arbeitslos und dabei nicht wählerisch. Er habe auch schon Lagerarbeiten gemacht. Aber nach zwei Wochen sei meistens Schluss. Die Leute hätten Angst vor ihm. Der Film zeigt, wie er auf Befehl eine kleine Echse töten muss. Das einzige Wesen, das er lieb haben konnte in Guantánamo. Für die Zuschauer eine der schlimmsten Szenen. Für ihn auch? "Nein. Im Lager waren Neun- bis Zwölfjährige. Mit ihnen wurde dasselbe gemacht wie mit uns."

Viele junge Leute sind an diesem Abend gekommen. Einige stehen immer noch um Kurnaz herum, als alle anderen bereits weg sind. Wie könne er nur weiterleben? "Die Welt ist nicht das Paradies. Aber auch nicht die Hölle. Es muss weitergehen", sagt Kurnaz, Vater von zwei Kindern.