Stormarner mit psychischen Problemen bekommen Termine durchschnittlich erst nach mehr als drei Monaten.

Bargfeld-Stegen . Nach neuesten Statistiken der Psychotherapeutenkammer Schleswig-Holstein (PKSH) leiden landesweit immer mehr Menschen an psychischen Erkrankungen. Im Durchschnitt sei mehr als jeder vierte Erwachsene an einem seelischen Leiden erkrankt und benötige professionelle Hilfe - beispielsweise von einem kassenärztlichen Psychotherapeuten.

Viele der Erkrankten bekommen diese Hilfe aber nicht sofort bei einem Psychotherapeuten in ihrer Nähe. Engpässe in der ambulanten Versorgung führen zu langen Wartezeiten. Die durchschnittliche Wartezeit für einen Ersttermin bei einem Psychotherapeuten beträgt nach Angaben der PKSH mehr als zwölf Wochen, in ländlichen Gebieten sogar bis zu 14 Wochen.

Rein statistisch gesehen weist der Kreis Stormarn nach Berechnungen der AOK Nordwest sogar eine Überversorgung an Psychotherapeuten auf. Von den im gesamten Land Schleswig-Holstein 632,35 Psychotherapeutenstellen fallen 39,55 auf Stormarn. Nach rechnerischem Bedarf wären nur 38,05 Stellen nötig. Da es aber in Stormarn bisher zu wenig Zulassungen für Psychotherapeuten gibt, die sich mit Kindern und Jugendlichen beschäftigen, wurden vergangenen Monat vom Landesausschuss für Ärzte und Krankenkassen 1,5 neue Planstellen bewilligt.

Dass es dennoch auch in Stormarn zu monatelangen Wartezeiten in der ambulanten Psychotherapie kommt, erklärt sich Jens Kuschel, Sprecher der AOK Nordwest, damit, dass manche Psychotherapeuten mit einer vollen Planstelle nur halbtags arbeiten. Außerdem wollten sich viele Patienten nur von bestimmten Therapeuten behandeln lassen.

Hannelore Labentsch, die seit 26 Jahren Leitende Oberärztin für Psychotherapie im Heinrich Sengelmann Krankenhaus in Bargfeld-Stegen ist, ist davon überzeugt, dass Wartezeiten von bis zu drei Monaten für psychisch Kranke, insbesondere für depressive Patienten, viel zu lang sind. Sie könnten dazu führen, dass der Patient resigniert aufgibt oder noch stärkere Depressionen bekommt.

Manche der Erkrankten lassen sich dann von ihrem Hausarzt Psychopharmaka verschreiben und versuchen, "irgendwie weiterzuleben". Nur in ganz akuten Fällen ist eine Einweisung in eine psychiatrische oder psychotherapeutische Klinik wie das Heinrich Sengelmann Krankenhaus möglich.

Doch bei den meisten stationären Einrichtungen gibt es laut Labentsch ebenfalls lange Listen mit Wartezeiten von vier bis zwölf Wochen. Es komme aber immer häufiger vor, dass Patienten plötzlich vor der Tür stünden, weil sie nicht mehr können und nicht weiterwissen oder weil sie von ihren Familien gebracht oder ihrem Arzt eingewiesen werden. "Wir bemühen uns, den Patienten sofort aufzunehmen, ohne vorher Anträge zu bearbeiten, und lassen ihn erst mal ankommen. Innerhalb der ersten Woche schreiben wir dann die Krankenkasse an und regeln das Bürokratische", sagt Labentsch.

Wenn es dennoch einmal zu Wartezeiten komme, werde mit den Patienten telefonisch Kontakt gehalten. "Sie sollen das Gefühl bekommen, nicht vergessen zu sein", sagt Labentsch. Dabei sei die Tiefenpsychologie ein wichtiger Faktor. "Sie hilft uns zu verstehen, wie ein Mensch geprägt ist, also wie der Patient tickt", sagt die 64-Jährige.

Ein Mann beispielsweise, der zu aggressivem Verhalten neige, werde von den meisten Menschen als "nervend" abgestempelt, so Labentsch. Die Aufgabe der Psychotherapeuten bestehe darin, "in die Tiefe zu gehen und so quasi von hinten herum darauf zu kommen, dass der Patient unter Depressionen leidet", sagt sie.

Dass die Zahl der psychisch Kranken seit Jahren steige, liegt laut Labentsch auch an den besseren Diagnoseverfahren. Die eigentliche Ursache liege jedoch im Alltag: "In unserer leistungsorientierten Gesellschaft geht es immer nach dem Motto 'schneller, höher, weiter'. Deswegen bekommen die Menschen heute vielleicht schneller eine Depressionen als zu anderen Zeiten."

Das Spektrum der Patienten im Heinrich Sengelmann Krankhaus ist breit gefächert. Die Altersspanne reicht von 18 bis 95 Jahren, und auch die Geschlechterverteilung gleicht sich immer mehr an. "Früher hatten wir hauptsächlich Frauen in Behandlung. Heute liegt die Verteilung bei etwa 60 Prozent Frauen und 40 Prozent Männern, wobei das immer mehr Richtung 50 zu 50 geht", sagt Labentsch. Auffällig sei, dass nach wie vor im Suchtbereich mehr Männer und in der Psychosomatik mehr Frauen behandelt würden.

Auch wenn die Symptome noch so zahlreich sind und von Angst über Aggression, Schizophrenie und Sucht bis zum Trauma reichen, steht für Hannelore Labentsch häufig die Depression im Hintergrund und bildet die eigentliche Ursache für zahlreiche Leiden, die sich oft körperlich manifestieren - beispielsweise in Migräne oder Rückenschmerzen.

Dr. Lothar Imhof, Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie in Ahrensburg, sagt: "Wir wissen zwar nicht genau, ob die Zahl der an Depressionen Erkrankten tatsächlich in Folge des Arbeitslebens zunimmt, aber sie wird als Problem immer offensichtlicher." Ein Beleg dafür seien die sogenannten Frühberentungen. Waren 1983 psychische Störungen deutschlandweit in 8,6 Prozent aller Fälle für das vorzeitige Ausscheiden aus dem Berufsleben verantwortlich, so waren es 2011 schon 42,4 Prozent.

Dennoch sieht Lothar Imhof auch positive Entwicklungen. Beispielsweise sei die Schwelle, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben, heute viel geringer als früher. Zudem sei die Zahl der Suizide seit den 1970er-Jahren stark gesunken. Dies ist für ihn ein Anzeichen, dass sich mehr Menschen mit seelischen Leiden Hilfe holen. Imhof sagt: "Wir können nicht verhindern, dass mehr Menschen depressiv werden, aber wir können sie heutzutage besser behandeln."