In der Hermann Jülich Werkgemeinschaft in Hamfelde leben und arbeiten Behinderte. Nicht die Tätigkeit, sondern der Mensch steht im Mittelpunkt der sozialtherapeutischen Einrichtung.

Hamfelde. Melanie ist Anfang zwanzig. Konzentriert packt sie einen Brotlaib in eine Plastiktüte. "In der Küche helfe ich am allerliebsten." Melanie ist von Geburt an geistig und körperlich behindert und eine von 42 Betreuten, die in der Hermann Jülich Werkgemeinschaft in Hamfelde arbeiten. Im Gegensatz zu Melanie, die seit sieben Jahren nur ihre Vormittage hier verbringt, haben derzeit die anderen 41 zum Teil schwerst mehrfach behinderte Menschen auf dem großzügig angelegten, ehemaligen Gutshof-Gelände ihren festen Wohnsitz. Zum Beispiel Nils, den Küchenleiterin Ulrike Schermer liebevoll den "Spülmeister" nennt: Seit 22 Jahren lebt der 40-Jährige in Hamfelde.

Die Werkgemeinschaft mit den insgesamt vier Wohngruppen ist seitdem sein Zuhause. Hier findet er Betreuung und vor allem Aufgaben, die ihn fordern und fördern. "Unser Ziel ist es, den Betreuten innerhalb eines beschützten Rahmens größtmögliche Selbstständigkeit zu gewähren", sagt Anke Brammen, seit 2001 Leiterin der sozialtherapeutischen Einrichtung. "Jeder hat unterschiedliche Fähigkeiten. Und die möchten wir stärken." Neben der Arbeit in der Gemeinschaftsküche gibt es eine kleine, professionell ausgestattete Papierwerkstatt. Hier arbeiten unter anderem Detlef und Andrea.

Dass Andrea blind ist, fällt im ersten Moment nicht auf. In Windeseile stapelt sie Pappen, auf denen hochwertiges Papier aufgezogen ist. Mit sechs Verlagen arbeitet die Hermann Jülich Werkgemeinschaft zusammen und produziert unter anderem fein gestaltete Notiz-, Skizzen- oder Tagebücher und Fotoalben. "Natürlich ist es schön, wenn am Ende ein gutes Produkt dabei herauskommt. Die Arbeit ist aber nur das Medium", erklärt Anke Brammen. "Die Betreuten lernen in erster Linie den sozialen Umgang miteinander. Deswegen sind die Gruppen auch relativ klein. Nur so können wir auch wirklich auf jeden Einzelnen eingehen." Hier bekommt auch der Schwächste eine sinnvolle Aufgabe, die zum Ergebnis beiträgt. "Das motiviert ungemein. Denn wer arbeitet schon gern, ohne zu wissen, für was es gut sein soll."

Ein intensiver Duft verrät, welcher weitere Arbeitsbereich in dem alten Schmiedegebäude gleich rechts neben dem Parkplatz untergebracht ist: die Kräuterwerkstatt. Mehr als vierzig unterschiedliche Arten werden in dem einen halben Hektar großen, hauseigenen Kräutergarten biologisch-dynamisch angebaut, geerntet, frisch verkauft oder getrocknet und als Tee- oder Gewürzmischung verpackt. Charlotte, 15, ist heute für die Thymianernte zuständig. Die Rostocker Waldorfschülerin macht ein viermonatiges Praktikum in Hamfelde, eine Woche davon ist schon um. "Am Anfang hatte ich noch ein paar Berührungsängste, aber mittlerweile finde ich den Kontakt zu den Betreuten total spannend. Ich wurde hier von allen super aufgenommen. Besonders gut finde ich, dass hier jeder einbezogen wird und nicht die Arbeit, sondern der Mensch im Mittelpunkt steht."

"Hier ist es schön", bestätigt die 23-jährige Juliane, die gemeinsam mit Charlotte den geschnittenen Thymian in Körben sammelt. Juliane leidet an einer geistigen Behinderung und lebt seit einem Jahr in Hamfelde.

Die beiden jungen Frauen müssen sich beeilen, denn die Küchenmannschaft ist mit ihrer Arbeit bereits fertig: In den verschiedenen Aufenthaltsbereichen sind die Tische gedeckt, in den Schüsseln dampft Tomatensoße. Wer will, kann auch alleine essen.

Anke Brammen: "Bei uns gibt es genügend Rückzugsmöglichkeiten. Das vermeidet Stress, mit dem manche Betreute nicht umgehen können." Ein besonders beliebter Rückzugsort ist der Snoezelen-Raum im Souterrain des 2011 erbauten Wohngruppenhauses gegenüber dem Werkstattgelände. Snoezelen ist ein Kunstwort aus den beiden holländischen Begriffen für "schnuppern" und "dösen". Auf einem großen Wasserbett liegen viele Kissen, farbig wechselnde Lichteffekte sorgen für eine Atmosphäre, die die Sinne anregt und gleichermaßen entspannend wirkt. "Wir sind sehr glücklich, dass wir dieses neue Haus bauen konnten", sagt Britta Hoeser, die in der Werkgemeinschaft für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. In dem modernen, rund 1000 Quadratmeter großen Gebäude leben derzeit acht Menschen zwischen 20 und 60. Sie alle brauchen mehr Betreuung, als in den anderen Wohngruppen geleistet werden kann. "Jetzt können diejenigen, die nicht mehr arbeiten oder einen erhöhten Pflegeaufwand haben, bei uns bleiben und müssen nicht in andere Einrichtungen umziehen." Ein lichtdurchfluteter Ess- und Aufenthaltsbereich, große Einzelzimmer mit eigenem Bad, ein Fahrstuhl, die eigene Wäscherei im Keller - all das bringt Komfort und Leben ins Haus. "Das tut den Bewohnern gut", ist Anke Brammen, Leiterin der Hamfelder Werkgemeinschaft, überzeugt. "Sie können teilhaben an den Abläufen, Reize von außen aufnehmen und sich in der Gemeinschaft aufgehoben fühlen."

Neben dem Standort in Hamfelde bietet die Hermann Jülich Werkgemeinschaft auch noch in Köthel und Ahrensburg-Wulfsdorf Wohn- und Arbeitsangebote für "seelenpflegebedürftige Erwachsene" an. In Köthel liegt ein Schwerpunkt in der Tierhaltung mit Hühnern, Enten, Ziegen, Schweinen, Rindern und Pferden. Die Pferde werden auch beim therapeutischen Reiten eingesetzt. In Ahrensburg befindet sich auf dem Gelände des generationsübergreifenden Dorfprojektes "Allmende" eine Textilwerkstatt und ein Appartementhaus mit einer Hausgemeinschaft von neun Erwachsenen mit geistigen Behinderungen, die vom ambulanten Pflegedienst der Werkgemeinschaft versorgt werden. Zwei weitere Appartementhäuser sind in Planung, außerdem wird es von Oktober an eine Küchenwerkstatt mit Café geben, in der Betreute mitarbeiten.