Jens Ritter kandidiert für einen Platz im Gremium des Hamburger SV. Als treuer Fan begleitet er den Verein quer durch Europa.

Reinbek. Zehnstündige Arbeitstage sind bei Jens Ritter normal, manchmal sind es auch zwölf. Nun bewirbt er sich für eine weitere zeitintensive Tätigkeit - einen Aufsichtsratsposten beim Hamburger Sport-Verein. Dort würde er den Vorstand des Bundesligaklubs kontrollieren und möglichen Neueinkäufen für die Fußballmannschaft seine Zustimmung geben oder verweigern. Er will in seiner Freizeit keine Bücher lesen, keine Filme gucken und keine Musik hören. Er will bis tief in die Nacht an Sitzungen teilnehmen. "Ich habe nun mal keine anderen Hobbys", sagt der Reinbeker und grinst dabei fast verlegen.

Der 53-Jährige leitet seit sechs Jahren das Klinikum Bad Bramstedt sowie das RehaCentrum Hamburg. Er ist verantwortlich für 1000 Mitarbeiter und einen Jahresumsatz von 75 Millionen Euro. Dass er sich zu präsentieren weiß, verwundert daher nicht. Er spricht wohlbedacht, aber nicht langsam, er untermauert seine Ausführungen mit ruhiger Gestik und schmückt sie mit Anekdoten und auflockernden Details. Details wie dieses: "Zu Beginn der Fußballsaison blockt meine Sekretärin alle Termine, an denen der HSV spielen könnte."

Ritter meint es ernst mit seiner Kandidatur, ernster als manch anderer der vielen Kandidaten, die vor vergangenen Wahlen den Fragen der kritischen Mitglieder des basisdemokratischsten Vereins der Bundesliga zum Opfer fielen. Er meldete sich bei der Internetplattform Facebook an, wo er häufig gestellte Fragen beantwortet. Er verschickte eine Pressemitteilung an mehrere Tageszeitungen und nahm sogar Übungsstunden bei einer Rhetorik-Lehrerin. Es kommt für ihn am Sonntag im Hamburger CCH darauf an, mit seiner Rede zu überzeugen. Als beim HSV bislang unbeschriebenes Blatt genießt er keinerlei Kredit bei den Mitgliedern. So sieht er sich auch als "Außenseiter." Er konkurriert mit 13 weiteren Kandidaten um vier neu zu besetzende Plätze.

Seit 1976 lebt Ritter in Reinbek, damals begann er im St. Adolf-Stift eine Ausbildung zum Krankenpfleger. Danach zog er mehrmals um, hielt der Stadt aber immer die Treue. Heute bewohnt er mit seiner Frau Susanne, der Koordinatorin im Hospiz im Niels-Stensen-Weg, und seiner 18-jährigen Tochter Hanna ein Haus in Ohe. Seine Söhne Simon, 24, und Jonas, 26, sind schon ausgezogen. So bald sieht das Ehepaar auch keinen Grund, der "Stadt im Grünen" den Rücken zu kehren. "Es ist eine schöne Gegend mit dem Sachsenwald und den vielen Flüssen vor der Haustür", sagt der dreifache Familienvater. "Außerdem wohnt hier fast unser gesamter Freundeskreis." So wird Ritters Nachbarschaft auch in den nächsten Jahren an der Spitze des vor dem Eigenheim aufgestellten Fahnenmastes erkennen, ob ein Spiel des HSV oder der deutschen Nationalmannschaft ansteht - er beflaggt tagesaktuell.

Mit welchen Inhalten aber tritt Ritter an, wenn es am Sonntag zum zehnten Tagesordnungspunkt kommt? Er wolle daran mitarbeiten, dass der Verein wieder für Kontinuität, Konstanz und Nachhaltigkeit stehe, sagt er. Gleichzeitig ist ihm bewusst, dass dies auch seine Mitbewerber so oder so ähnlich formulieren werden. Abheben will er sich mit einem Plädoyer auf die Transparenz: "Zuletzt wurden die Mitglieder nicht oder zu spät in Entscheidungen einbezogen", sagt er. Dinge wie die umstrittene Zusammenarbeit mit dem Investor Klaus-Michael Kühne oder das nicht minder umstrittene Geschäft mit dem Ticketanbieter Viagogo, der Eintrittskarten überteuert weiterverkauft, seien unzureichend kommuniziert worden.

Die Tatsache, dass Fans häufig von Funktionären vor vollendete Tatsachen gestellt werden, beobachtet Ritter nicht nur beim HSV. Kürzlich führte die Deutsche Fußball Liga kurzerhand ein neues Sicherheitskonzept ein, das den Vereinen unter anderem die Nacktkontrollen von Zuschauern ermöglicht - eine Demütigung, die Ritter nicht über sich ergehen lassen würde. "Die ganze Debatte um die vermeintlich steigende Gewalt im Fußball ist ohnehin völlig unsachlich hochgekocht worden. Es passiert viel weniger als noch vor 20 oder 30 Jahren", so der langjährige Fan, der gut weiß, wovon er spricht. Seit Ende der 70er-Jahre fährt er regelmäßig auch zu Auswärtsspielen des HSV.

Am 26. Juni 1976 erwachte die Liebe des damals 17-Jährigen zu den "Rothosen". Mit drei Freunden fuhr er in einem VW-Käfer nach Frankfurt und sah, wie die Elf des damaligen Trainers Kuno Klötzer mit einem 2:0-Sieg gegen den 1. FC Kaiserslautern den DFB-Pokal in die Hansestadt holte. Seit Jahren besucht er mit seiner Frau und seinen beiden jüngeren Kindern fast jedes Heimspiel im Hamburger Volkspark. Nur sein Sohn Jonas ist kein Dauerkarteninhaber. Zu Auswärtsspielen in ganz Europa reist er meist mit Arbeitskollegen. Einer der vielen Momente, die ihm im Gedächtnis geblieben sind, ereignete sich vor knapp drei Jahren in Eindhoven. Durch einen kuriosen 3:2-Erfolg war der HSV in das Achtelfinale der Europa-League eingezogen. Noch eine Stunde nach dem Abpfiff sangen 2500 mitgereiste Anhänger in dem sonst bereits menschenleeren Philips-Stadion Lieder wie "An de Eck steiht'n Jung mit'n Tüddelband." "Da hat sich all die Begeisterung für den Verein und die Stadt gezeigt", so der gebürtige Hamburger.

"Arbeiten macht mir Spaß", sagt Ritter, der sich deswegen nicht als Workaholic sieht. Am Sonntag Nachmittag weiß er, ob er sich auf noch mehr Spaß einstellen kann.