Eine Glosse von Dorothea Benedikt

Es ist eine Kaulquappe. Nein, eine Eidechse. Oder vielleicht doch ein Wurm? Figuren beim Bleigießen sind nur schwer zu definieren. Andererseits würden Alien oder Embryo auf etwa 90 Prozent aller Bleifiguren passen.

Doch beides ist nicht in jedem Deutungsbuch zu finden. Stattdessen beispielsweise ein Fahrrad. Da frage ich mich, wie soll man das gießen? Und ob es schon jemand geschafft hat, Speichen, Lenker, Sattel und Pedale zu formen. Sollte jemandem tatsächlich dieses Kunstwerk gelingen, wird er noch nicht einmal belohnt. Bedeutung: ergebnisloses Abstrampeln. Unklar ist mir auch, wie jemand einen Arzt ("Erkältung im Anmarsch") gießen soll.

Mir ist Silvesterabend beides nicht gelungen. So schlage ich nach, was für eine Bedeutung der Wurm hat. "Kaum Erfolg zu erwarten." Bei genauerer Betrachtung erkenne ich plötzlich kleine Beinchen an meiner Bleifigur. Es ist wohl doch eine Eidechse. "Schwer zu fassen", steht im Deutungsbüchlein. Werde ich etwa kompliziert? Oder nehme ich zu?

Nun blättere ich das Büchlein durch. Beutel: "Unerwartetes Glück." Wenn ich meine Bleifigur drehe, ist es eindeutig ein Beutel. Genauso eindeutig, wie die Bleifigur meiner Freundin. Ein Tropfen. "Liebeskummer." Wie unpassend, denke ich. Schließlich möchte sie dieses Jahr heiraten. Unisono kommen wir zu dem Ergebnis, dass das keine Träne ist. "Es könnte auch eine Glocke sein", sagt eine andere Freundin. Stimmt. "Eine Erbschaft rückt in greifbare Nähe". Sofort lächelt die künftige Braut, verzieht dann jedoch wieder das Gesicht: "Aber dann wird jemand sterben." Und ich fange wieder an zu blättern.