Das Kirchenjahr geht zu Ende. An diesen Sonntagen steht unsere eigene Endlichkeit im Vordergrund, und das passt auch schon äußerlich zu der düsteren und unwirtlichen Jahreszeit, die wir jetzt erleben. Das Gedenken an die Verstorbenen und das Bewusstsein unserer eigenen Sterblichkeit: Beides bestimmt die Sonntage am Ende des Kirchenjahres. Trauer und Totengedenken treten auch in die Öffentlichkeit.

Morgen, am Volkstrauertag, denken wir an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Männer, Frauen und Kinder aller Völker, die den Kriegen zum Opfer gefallen sind. Wir trauern um die Toten der Weltkriege, und das ist für manchen von uns vielleicht immer noch auch ein sehr persönlicher Trauertag. Die Erinnerung an den Mann, den Bruder oder den Vater, der im letzten Krieg sein Leben lassen musste, ist auch nach so langer Zeit immer noch lebendig. In vielen Wohnungen stehen kleine Bilderrahmen, und darin sind Fotos von den viel zu jungen Menschen in den inzwischen fremden Uniformen. Und in der Erinnerung der Überlebenden sind diese Menschen so jung geblieben, wie sie damals waren.

Am Volkstrauertag gedenken wir der Toten der Weltkriege, aber wir denken auch an die Kriege und Bürgerkriege unserer Tage, wir trauern um die unschuldigen Opfer von Terroranschlägen und politischer Verfolgung. So ist dieser Tag nicht nur ein Tag zur Erinnerung an den Wahn in der Vergangenheit, sondern auch ein Tag zur Mahnung daran, dass der Frieden der Gegenwart immer wieder Gefährdungen ausgesetzt ist.

Dem französischen Philosophen Gabriel Marcel wird der Satz zugeschrieben: "Weil die Toten schweigen, beginnt alles wieder von vorn!" Dieser Satz ist wohl ursprünglich als pessimistische Aussage über die ewige Wiederkehr des Gleichen gemeint: Weil die Toten schweigen, sind wir unfähig, aus dem Vergangenen zu lernen, und deswegen beginnt alles wieder von vorn.

Aber man kann diesen Satz ja auch anders verstehen! Stellen wir uns das Gegenteil vor: Die Toten der Kriege und Verbrechen würden nicht schweigen, sondern reden, klagen und schreien. Eine unerträgliche Vorstellung! Wenn die Toten nicht schwiegen, dann würden sie uns sicherlich ununterbrochen ins Gewissen reden, sie würden uns warnen, uns anflehen: Hört auf mit dem Unfrieden, mit dem Hass, mit dem Morden. Aber es ist offenbar so: Die Toten schweigen. Nur deshalb können wir am Volkstrauertag der Toten gedenken, die durch Kriege und Gewaltherrschaft ihr Leben verloren haben. Nur weil die Toten schweigen, können wir heute damit leben.

Vielleicht ist aber genau das ein Auftrag, der sich aus dem Volkstrauertag ergibt: An diesem Tag geben wir den Toten eine Stimme - wir ermahnen uns zum Frieden, zu Gerechtigkeit, zu Versöhnung. Verglichen damit, was los wäre, wenn die Millionen selbst reden würden, ist das eine ganz leise, zaghafte Stimme. Aber wir haben mit dem Volkstrauertag wenigstens zu dieser leisen Stimme Gelegenheit, und es ist gut, dass wir diese Gelegenheit nutzen!

Propst Matthias Bohl, Reinbek Ev.-Luth. Kirchenkreis Hamburg-Ost