In Bargteheide wurde das niedersächsische Präventionsprojekt “Grenzgebiete“ gegen sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen vorgestellt.

Bargteheide. "Spinnst du? Finger weg! Du tust mir weh!", schreit Alex und tritt zu. "Du mir auch", schreit Paul zurück, aber er lässt von ihr ab. Aufgewühlt und frustriert setzt er eine Flasche Wodka an den Hals. Da kommt die schüchterne Sarran vorbei. "Na warte, dich kriege ich", ruft Paul, rennt hinter ihr her und erwischt sie auf dem Parkplatz. Als es vorbei ist, herrscht Ratlosigkeit. "Ich kenne mich selbst nicht mehr", sagt Paul. "Es wird mir niemand glauben", sagt Sarran und beschließt zu schweigen.

Schweigen herrschte zunächst auch im Bargteheider Ganztagszentrum. Rund 60 pädagogische Fachkräfte aus ganz Schleswig-Holstein waren zur landesweiten Auftaktveranstaltung des Präventionsprojektes "Grenzgebiete" gegen sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen gekommen. Sie mussten das Gesehene erst einmal verkraften. Und so ist auch das Theaterstück mit dem zweideutigen Titel "EinTritt ins Glück" nur zusammen mit Workshops für Schüler buchbar. Damit anschließend darüber geredet wird. Darüber, wie wichtig es ist, Nein zu sagen.

"Genau das ist es, was sich hinter vielen Fällen verbirgt. Die Jugendlichen tun sich unglaublich schwer, Nein zu sagen und genauso, über das Erlebte überhaupt zu sprechen", sagte Andrea Buskotte von der Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen. Sie war der Einladung der Stormarner Jugendschutzbeauftragte Petra Linzbach gefolgt, die das in Niedersachsen bereits gestartete Präventionsprojekt nach Schleswig-Holstein holen möchte.

"Sie hatten hier zum Glück noch keinen Skandal. Wir hatten einen", sagt Buskotte. "Deswegen hat Niedersachsen auch die Zusage für die Finanzierung des Präventionsprojekt gegeben." Im Sommer 2010 sollen im Feriencamp auf Ameland Jugendliche von anderen Jugendlichen sexuell gedemütigt worden sein. Die Staatsanwaltschaft sprach von mindestens sechs 13-jährigen Jungen, die im Schlafsaal Opfer von Misshandlungen geworden seien.

Wie hoch die Zahl der Betroffenen insgesamt ist, sei unklar. "Als wir mit der Vorbereitung des Projektes anfingen, standen wir vor dem Nichts. Nicht inhaltlich, sondern statistisch gesehen", sagte Buskotte. Keine Forschungen, kein verlässliches Datenmaterial. "Dass dennoch gerade Jugendliche sexuelle Übergriffe erlebten, dürfte keine gewagte Behauptung sein."

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung habe in den 90er-Jahren ermittelt, dass 13 Prozent aller Mädchen und auch drei Prozent aller Jungen unter Druck sexuelle Handlungen erlebt hätten. Buskotte: "Bei einer englischen Studie, die im Jahr 2010 auch nach seelischen Verletzungen fragte, waren es sogar 31 Prozent der Mädchen und 16 Prozent der Jungen."

Auch die Stormarner Jugendschutzbeauftragte geht von einer hohen Dunkelziffer aus. "Schaut man sich die Studien an, ist zwischen fünf und 60 Prozent alles möglich", sagt Linzbach. "Realistisch ist wohl, dass 30 Prozent der 13- bis 17-jährigen Mädchen und rund zehn Prozent der Jungen in diesem Alter betroffen sind." Ein Blick ins Internet sei ein eindrucksvolles Zeugnis. "Viele Mädchen schreiben, dass sie das alles nicht wollten, aber dass sie auch Angst hätten, ihren Freund zu verlieren", sagt Linzbach. "Das Theaterstück soll gerade diese schwierige Gefühlslage der jungen Leute deutlich machen", sagte Anna Pallas, Geschäftsführerin der Theaterpädagogischen Werkstatt Osnabrück, die das Stück "EinTritt ins Glück" auf Reisen schickt. Pallas: "Deswegen integrieren wir die Jungen und zeigen auch ihre Konfliktlage."

Der Sozialpädagoge der Reinfelder Immanuel-Kant-Schule Lutz Deistler fand die Vorstellung gelungen: "Eine harte Sprache, aber die jungen Leute reden so, weil sie ihre Gefühle nicht ausdrücken können. Und die Jungs meinen tatsächlich, sie müssten cool sein."

Die Stormarner Jugendschutzbeauftragte Petra Linzbach steht ohnehin im engen Kontakt mit Christa Limmer vom Jugendschutz Schleswig-Holstein. So arbeiten Stormarn und der Verein "Aktion Kinder- und Jugendschutz" der Kieler Fachstelle Prävention nun auch beim Präventionsprojekt zusammen, zu dem das Theaterstück, die Workshops und auch Schulungen für Fach- und Lehrkräfte gehören. Auch die Ausstellung "Echt krass" kann gebucht werden.

"Sie hat uns in den Wahnsinn getrieben, so schwierig war sie", sagte Ursula Schele vom "Petze" Präventionsbüro in Kiel. Zu hören sind unter anderem Originaltexte von Vergewaltigungsopfern. Zu sehen sind zum Beispiel unter der Überschrift "Alles Porno" nackte Barbiepuppen. "Das ist hart", sagte ein 14-jähriger Schüler, als er die Ausstellung im Schulforum gesehen hat, "aber ich finde das gut. Die Freundin meiner Schwester wurde sexuell angegriffen. Das ist schon länger her. Sie hat immer noch Angst, auf die Straße zu gehen."