Abendblatt-Schreibwettbewerb: Leser Siegfried Michalzik verliert als Zehnjähriger auf der Flucht seine Familie

Januar 1945 in der Stadt Rastenburg/Ostpreußen. Es war Nacht. Die eisige Kälte von circa minus 26 Grad Celsius ließ mich nach einer Wärmequelle Ausschau halten. Meine Mutter, meine drei Brüder und meine Großmutter harrten auf dem Fluchtwagen aus. Während der Flucht gab es kein Anhalten. Auch nicht in der Nacht.

Ein Stau in der Stadt zwang uns dennoch zu einem Halt. Und da entdeckte ich sie plötzlich: eine hell erleuchtete Kneipe. Ohne meiner Mutter meine Absicht kundzutun, steuerte ich diese Kneipe an. Nur ein paar Minuten in einer kuscheligen Ecke. Das war alles, was ich wollte. Ein Barhocker war nicht besetzt. Mutig setzte ich mich - und schlief ein. Wann ich dann wieder erwachte, erinnere ich nicht mehr.

Inzwischen hatte die Wagenkolonne weiterziehen müssen. Wo war sie? In meiner Verzweiflung lief ich in der Dunkelheit hin und her und suchte unseren Wagen. Eine Straßengabelung brachte mich in Panik. Welches war der richtige Weg?

Die Schneedecke erreichte in diesem harten Winter schon die äußerste Zaunhöhe von 80 Zentimetern. So lief ich den ganzen Tag über hart gefrorenen Schnee. Aber die Suche war erfolglos. Am Abend setzte ich mich in meiner Ratlosigkeit einfach zu einer Gruppe von Flüchtlingen, die in einer leer stehenden Küche ein Essen zu sich nahmen. Bereitwillig gab man mir, einem zehnjährigen Jungen, der allein umherstreifte, etwas ab. Die Fluchtwagen waren ja noch gefüllt mit Würsten, Schinken, Brot und Weckgläsern.

Aus verschiedenen Gründen blieben manche Fahrzeuge am Straßenrand zurück. Dadurch fand ich für die Nächte Decken, Felle und Säcke. Eines Tages erkannte ich in einem der großen Fluchtwagen den Ortsbauernführer unseres Dorfes, Herrn Baller. Er hatte in Abständen die Bauernhöfe besucht, um nach dem Rechten zu sehen. Auch bei uns, denn mein Vater war an der Front. Ich schlich mich an ihn heran. Als Herr Baller erfuhr, dass ich auf der Suche nach meiner Mutter sei, sagte er: "Du bleibst bei uns." Das Ehepaar Baller hatte acht Kinder. So gab es auf dem Fahrzeug natürlich keinen Platz für mich. Ich ging zu Fuß.

Wir setzten den Weg nun gemeinsam fort. Da sich inzwischen eine sogenannte Kesselfront bildete, gab es für uns nur noch den Weg über das Frische Haff. Glücklicherweise hatte sich eine tragfähige Eisdecke gebildet. Es war ein strahlender Wintertag, als wir dort ankamen. Das Weiß der riesigen Eisfläche schnitt ins Auge. 20 Kilometer lang erstreckte sich vor uns der Weg über das Haff. Hoffentlich erreichen wir den winzig schmalen Landstreifen, die Frische Nehrung, dachte ich. Gut, dass ich die furchtbaren Erlebnisse und Bilder, die noch vor mir lagen, nicht kannte.

So pilgerte ich in 89 Tagen die rund 1000 Kilometer bis nach Grevenkrug bei Bordesholm. Die Familie Butenschön gab uns ein Zuhause. Im September des gleichen Jahres fand ich mit Hilfe des Roten Kreuzes meine Mutter und meine Brüder wieder. Sie wohnten in Meddewade bei Bad Oldesloe. Geblieben sind viele, viele Bilder. Sie prägen mein Leben. Manche Träne floss beim Formulieren des Erlebten. Zaghaft versuche ich, all die Bilder in Worte zu fassen.

Es bleibt aber noch etwas anderes:

In meiner jetzigen Lebensphase verstärkt sich das Bedürfnis, der Familie Baller noch einmal intensiv zu danken. Denn ich lebe! Ich wollte den Dank direkt übermitteln und bat die Suchdienste um Unterstützung. Aber nach 67 Jahren die richtigen Anschriften herauszufinden, ist sehr aufwendig.

Fünf Monate musste ich warten. Dann kam die Antwort. Am 4. Mai 2012 erreichte mich der ersehnte Brief. Darin stand: Richard Baller verstorben, H. Baller verstorben, Gertrud verstorben. Deswegen habe ich mich nun entschieden, symbolisch zu danken.

Auf dem Altar der Kirchengemeinde in unserer jetzigen Heimatgemeinde Ammersbek werde ich eine Kerze entzünden. Und ich werde das Radio bitten, ein Musikstück für meine Lebensretter über den Äther zu senden. Weitere Ideen wachsen. Mich begleitet der Gedanke: "Sei zufrieden meine Seele!"