Leserin Johanna Müller-Taschendorf über die Erkenntnis, dass nicht alles so ist, wie es scheint

Fräulein Bukanski hieß Tante Klara. Sie war jeden Sonntag im Kindergottesdienst als Helferin in einer Gruppe für die Kleinen. Und einmal in der Woche konnte man zu ihr in die Kinderstunde gehen. Da wurde aus der Bibel vorgelesen, gesungen, gespielt und gebastelt. Es brachte viel Spaß, und wir gingen ziemlich regelmäßig dahin. Ich konnte sie gut leiden.

Etwas war besonders an Tante Klara: Sie war sehr klein, sah aber aus wie eine erwachsene Frau. Sie hatte einen großen Busen und einen krummen Rücken. Vielleicht war das auch ein richtiger Buckel. Auf jeden Fall sah es komisch aus, wenn sie ging. Ich weiß nicht, was Tante Klara für einen Beruf hatte. Ich glaube, sie arbeitete in einem Büro.

Meine Mutter hatte mal eine Bemerkung über Tante Klara und ihre Mutter gemacht, die ich nicht richtig verstand. Sie hatte nichts Schlechtes gesagt, aber es spielte etwas hinein, dass sich nicht gut anhörte.

Eines Tages habe ich Tante Klara besucht. Sie war krank, und die Kinderstunde fiel aus. Ich war sieben oder acht Jahre alt. Meine Freundin Brigitte und ich hatten die Idee, ihr etwas zu bringen. Wir wollten richtig gut sein. Wir nahmen einige Kekse mit, die Brigittes Mutter zufällig gekauft hatte. Und ich konnte meiner Mutter ein Glas Marmelade abluchsen.

Als wir bei Tante Klara anklopften, dauerte es eine Weile, bis sie aufmachte. Sie war sehr überrascht, als sie uns sah. Wir gaben ihr unsere Mitbringsel, und sie sagte dauernd: "Oh, das sollt ihr doch nicht. Das ist doch nicht nötig!" Aber wir hatten das Gefühl, sie wollte uns nicht hereinlassen. Und wir hätten so gern gesehen, wie sie wohnt.

Gerade als wir wieder gehen wollten, rief ihre Mutter aus einem hinteren Raum: Klara, lass doch die Mädchen reinkommen. Ich möchte sie auch gern sehen." Da musste sie das wohl tun. Es roch drinnen irgendwie komisch, richtig miefig. Na ja, wenn man krank ist! Die Mutter war ganz dünn, aber gar nicht krumm. Sie saß auf einem Stuhl am Fenster und sagte: " Das ist aber nett, dass ihr mal kommt. Und so hübsch seht ihr aus!" Wir waren verlegen. So was sagte sonst keiner.

In diesen Moment der Stille hinein sagte Tante Klara ganz laut: "Du kannst doch gar nichts sehen!" Ihre Mutter erwiderte erst nichts. Dann sagte sie: "Nein, aber ich stelle sie mir ganz hübsch vor. Willst du ihnen nicht etwas anbieten? Wir haben bestimmt Tee!"

"Och nee, danke, wir müssen auch wieder weg" sagten wir fast gleichzeitig. Tee am hellen Nachmittag? Lieber nicht. "Das geht auch gar nicht, du hast ja gestern das Geschirr fallen lassen", sagte Tante Klara streng. "Tschüs" riefen wir nur noch und gingen. "Na", sagte Brigitte, als wir draußen waren, "nur weil man Kindergottesdienst und Kinderstunde macht, ist man noch lange nicht nett zu seiner Mutter. Außerdem hatte sie Sammeltassen im Schrank, das hab ich genau gesehen. Aber alle Tassen im Schrank hat sie wohl nicht." Wir lachten. "Schade, dass wir ihr die Kekse gegeben haben", sagte ich, " so ne doofe Kanzelschwalbe!"

Heute weiß ich, dass Tante Klara wohl überfordert, traurig und einsam war. Glück und Schrecken und Hoffnungen hatte sie sicher erlebt. Als Kind sah ich nur, dass sie, die ich gern hatte, plötzlich so anders war. Es war kein Verlass mehr auf sie. Man musste auf der Hut sein! Ich bin trotzdem noch zu ihr in die Kinderstunde gegangen. Aber der Lack war ab.