Ein Pastor missbraucht Jugendliche. Wie verarbeitet das eine in ihren Grundfesten erschütterte Kirchengemeinde? Ein Gespräch mit Ahrensburger Geistlichen

Lisa Tsang ist eine fröhliche Frau mit einer positiven Grundeinstellung. Begriffe wie Glaube, Hoffnung und Vertrauen sind quasi ihr Geschäft. Doch in den zurückliegenden Monaten hat die Pastorin in Ahrensburg emotional tiefe Täler durchschritten. Die Tatsache, dass einer ihrer ehemaligen Kollegen Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht hat, dass diese Taten über Jahrzehnte verschleiert wurden, und dass die Kirche sich bis heute schwer tut mit der Aufarbeitung des Skandals, belastet sie.

"Ich bin früher offen auf die Menschen zugegangen. Das hat sich grundlegend geändert", sagt sie. Zweifel seien gewachsen und Misstrauen innerhalb der Gemeinde. "Wir haben unsere Unschuld verloren. Das bedaure ich sehr", sagt die 50-Jährige. Doch jetzt, 16 Monate nach Bekanntwerden des bis heute größten Missbrauchsskandals in der evangelischen Kirche, habe sie Zuversicht zurückgewonnen. Sie sagt: "Ich glaube, dass meine Kirche aus den schlimmen Vorgängen die richtigen Lehren ziehen kann."

Sonntagmorgen, Kirchsaal Hagen, kurz nach 11 Uhr. Die Stimmung ist gut unter den Gemeindegliedern. Nach dem Gottesdienst wird das Sommerfest gefeiert. Draußen blitzt hin und wieder die Sonne durch die dunklen Wolken über dem Gotteshaus. Die Predigt hält Angelika Weißmann, seit 1999 Pastorin der Gemeinde, die mit rund 13 500 Mitgliedern zu den größten Nordelbiens zählt. Auch Lisa Tsang ist gekommen, und drei weitere Kollegen.

Weißmann spricht über das neunte Gebot. Und wie einst ein Rabbi die Worte "Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider Deinen Nächsten" auslegte. Der Rabbi beschreibt die Haltung zum Leben, "das wichtige Gleichgewicht des Dreiecks: Liebe Gott und deinen Nächsten wie dich selbst". Dieses Gleichgewicht sei gestört in der Gemeinde.

Es wird ruhig in den Reihen, als Angelika Weißmann auf dieses unangenehme Thema kommt. Dann skizziert sie den aus ihrer Sicht einzigen Weg aus der Misere: "Es gibt nur eine Möglichkeit, dieses Gleichgewicht wieder herzustellen - wir müssen den Opfern Gerechtigkeit widerfahren lassen." Aber wie? Das bleibt offen. Dann gibt es Kaffee und Kuchen, später Grillwurst, Salat und Livemusik im Garten hinter dem Kirchsaal. Das Leben geht weiter.

Szenenwechsel. St. Johannes an der Rudolf-Kinau-Straße, vormittags um 11 Uhr. Angelika und Holger Weißmann, Anja Botta, Detlev Paschen und Lisa Tsang haben sich am hellen Holztisch im Gemeinschaftsraum versammelt, um sich den Fragen des Abendblattes zu stellen. "Wie gehen Sie heute mit dem Skandal um, beschreiben Sie Ihre Gefühle", lautet die Bitte an die fünf Geistlichen. Ratlose Blicke treffen sich, wer beginnt? "Es ist fürchterlich zu wissen, dass der Täter einer unser Kollegen war", sagt Angelika Weißmann. "Darüber zu reden ist eines, aber wie können wir das verarbeiten? Da brauchen wir die Hilfe externer Fachleute. Ich habe gelernt, damit zu leben. Nicht immer wütend zu sein. Und ich habe mir auch klar gemacht, dass es den Opfern vielleicht nie wieder ganz gut gehen wird."

Von nebenan dringt Kinderlachen durch die große Holztür in den Raum, als Lisa Tsang das Wort ergreift. Die Tochter eines chinesischen Pastors und einer deutschen Lehrerin, die seit 2007 in allen drei Gemeindebezirken der Schlossstadt tätig ist, sagt: "Wir sind von diesem Skandal kalt erwischt worden. Wir haben früh gesagt, dass dies kein rein Ahrensburger Thema ist, sondern ein nordelbisches."

Bis heute ist nicht klar, wie viele Jungen und Mädchen Ende der 70er- bis Mitte der 80er-Jahre von ihrem damaligen Pastor Dieter Kohl sexuell missbraucht wurden. Während Konfirmanden-Freizeiten, am Rande von kirchlichen Veranstaltungen oder sogar in seiner Zeit als Religionslehrer an der altehrwürdigen Stormarnschule? Fakt ist: Sieben Monate, nachdem sich erste Opfer in die Öffentlichkeit trauten, hat sich Dieter Kohl zu seinen Taten bekannt. Wörtlich ließ er im Dezember 2010 über seinen Anwalt mitteilen: "Ich bin schuldig geworden. Jugendliche und junge Erwachsene habe ich zu Opfern meiner sexuellen Übergriffe gemacht. Vergebung kann ich von den Betroffenen nicht erwarten. Ich lebe mit der Schuld." Der damals 72-Jährige quittierte zum Jahresende 2010 seinen Dienst, kam damit einem drohenden Verfahren des Kirchengerichts zuvor.

Zuvor hatte Bischöfin Maria Jepsen überraschend ihren Rücktritt erklärt, weil bei der Aufarbeitung der Fälle Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit aufgekommen waren. Eine Zeugin hatte behauptet, Jepsen schon 1999 mit den ungeheuerlichen Vorgängen konfrontiert zu haben. Kohls früherer Vorgesetzen, der Stormarner Pröpstin Heide Emse, die 1999 durch ein Opfer von dessen Taten erfuhr, bescheinigte ein externer Gutachter "Defizite in der Amtsführung". Dem widerspricht die Kirchenleitung nicht. Doch disziplinarrechtliche Schritte gibt es bislang weder gegen Emse noch gegen Kohls ehemaligen Kollegen. Gegen den Ruhestandsgeistlichen Friedrich H. wird noch heute ermittelt. Vorwurf: Verhältnisse mit jugendlichen Schutzbefohlenen in den 80er-Jahren. Auf Anfrage dieser Zeitung beim Kirchenamt in Kiel heißt es dazu lapidar: "Über weitere Schritte entscheiden wir im Herbst."

Doch viele Ahrensburger sind mit ihrer Geduld am Ende. Auch Pastor Holger Weißmann. Er sagt: "Es dauert einfach zu lange. Für die Opfer, aber auch für uns. Wir wären froh, wenn es endlich Klarheit gäbe." Welche Lehren zieht Weißmann aus dem Fall? "Auf keiner Ebene hat jemand bislang richtig gewusst, wie mit diesem Thema umzugehen ist. Wir haben alle erst lernen müssen, welche Prozesse ablaufen, dass sie ihre Zeit brauchen." Sein Kollege Detlev Paschen beugt sich vor, erklärt vehement: "Wir sind damals regelrecht in eine Schockstarre gefallen. Das ging sogar so weit, dass wir uns fragten, ob wir überhaupt noch feiern können."

Und dann drängt es den Vorsitzenden des Kirchenvorstands, der seit 1991 Pastor an St. Johannes ist, noch einmal auf die Zweifel einzugehen, die Lisa Tsang eingangs zur Sprache gebracht hat. Es gebe Bibelworte, die heute eine andere Bedeutung für ihn bekommen hätten: "Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes. Weder Mächte noch Gewalten. Du zweifelst manchmal daran, dass Gott die Menschen liebt. Es ist gut, diese Zweifel zuzulassen und dann wieder zueinander zu finden." Dann holt Paschen tief Luft. "Missbrauch spaltet", sagt er und will damit erklären, warum es bei der Aufarbeitung der Fälle in der Gemeinde und im Kirchenvorstand immer wieder zu Konflikten kam.

Begriffe wie "Zerrissenheit" fallen. Teils war der Kirchenvorstand öffentlich in Streit geraten über den Umgang mit dem Skandal. Kontakt zu den beschuldigten Kollegen im Ruhestand habe niemand von den amtierenden Pastoren. Bis heute sei unklar, wer Mitwisser der Vorgänge in den 70er- und 80er-Jahren war. Und wer 1999 eingeweiht war, als sich eines der Opfer an die Kirche wandte.

Begegnen die Menschen in Ahrensburg den amtierenden Pastoren mit Misstrauen? "Nicht gegenüber uns. Sondern eher bei der Frage der Aufarbeitung des Skandals", sagt Holger Weißmann, der seit 1996 Pastor an der Schlosskirche ist. "Diejenigen, die uns Mitwisserschaft unterstellen, sprechen uns wohl in der Regel nicht an." Als das Gespräch auf die Initiative "Dialog in Ahrensburg" kommt, wird Weißmann zornig. Der Zusammenschluss ehemaliger Gemeindeglieder hatte einen Thesenkatalog mit herber Kritik am Kirchenvorstand veröffentlicht. Weißmann: "Diese Thesen sind voll von Unterstellungen. Diese Leute werfen uns ungeprüft Vertuschung vor und wollen uns öffentlich unmöglich machen. Das ist Polemik, kein Dialog." Doch die Initiative lässt nicht locker. In einem offenen Brief vom 26. August schreibt Klaus Lemberg: "1999 waren einige von Ihnen bereits im Amt. Damals haben Sie, als es um die Strafversetzung Ihres damaligen Kollegen K. ging, weggeguckt und weggehört. Das wollen Sie heute nicht mehr wahrhaben."

Angelika Weißmann übt sich in Selbstkritik. Natürlich seien die Missbrauchsfälle nach wie vor Thema bei vielen Menschen in Ahrensburg und darüber hinaus. Sogar beim Einkauf im Supermarkt werde sie auf die ungeheuerlichen Geschehnisse angesprochen. Plötzlich und völlig unerwartet auch am Rande von Beerdigungen oder Taufen. Diese Menschen wollten sich mitteilen, mit Sätzen wie "Ich kannte diesen Mann gut, ich bin dort konfirmiert worden". Noch immer stünden einige den Ereignissen fassungslos gegenüber. Und oft seien eben auch die Geistlichen mit der Situation überfordert gewesen. "Auch wir sind Opfer des Systems Missbrauchs geworden. Dieses System hätte es beinahe geschafft, uns auseinanderzusprengen." Ihre Arme wirbeln dabei gestikulierend durch die Luft. Sie fügt an: "Letztlich ist die Gemeinde enger zusammengerückt."

Detlev Paschen zieht weitere Lehren aus dem Skandal: "Wir schauen uns die Dinge vor Ort genauer an als früher." Der Umgang mit dem Thema Missbrauch erfordere Wachheit und Distanz. "Wir als Kirche sind lernfähig. Wenn heute jemand etwas Auffälliges wahrnimmt, wird das aufgearbeitet", versichert der 52-Jährige. Die Kirche habe im Bereich der Prävention von anderen gelernt. "In Kitas und Schulen gibt es seit Jahren Strukturen, die helfen, Missbrauch soweit es geht zu verhindern. So etwas erarbeiten wir jetzt auch für die Kirche."

In einem sind sich alle Fünf einig: Es wird noch lange dauern, das Geschehene zu verarbeiten. "Dieser Fall hat auch gezeigt, dass wir Seelsorger in Situationen geraten können, in denen wir selbst Seelsorge benötigen", sagt Detlev Paschen. Zwei Kollegen hätten gerade an einem "Workshop für traumatisierte Institutionen" teilgenommen. "Wir müssen uns bewusst machen, was mit uns selbst geschehen ist", sagt Angelika Weißmann. "Wir haben eine Frau hierher geholt, die sich mit Supervisionen um die hauptamtlich Mitarbeitenden und Pastoren kümmert. Wir sechs Pastoren stützen uns gegenseitig. Wenn zwei von uns gerade einmal emotional im Keller sind, holen die anderen sie wieder heraus."

Aber gelingt das immer? Ihr Kollege Helgo Matthias Haak trat im Januar aus gesundheitlichen Gründen vom Amt des Kirchenvorstandsvorsitzenden zurück. Mehrere Monate blieb der Geistliche, der 2010 Gesicht und Stimme der Ahrensburger Kirchengemeinde in der Öffentlichkeit war, erkrankt. Die Folgen der bewegenden Ereignisse hätten wohl dazu beigetragen, mutmaßen seine Kollegen.

Dass dieser Fall tiefe Wunden gerissen hat, ist für jedermann im Kirchsaal am Hagen zu sehen. Die Kanzel, von der Pastoren über Jahrzehnte Gottes Wort verkündeten, wurde entsorgt. "Wir haben damit ein für die Opfer sehr belastendes Symbol entfernt und nutzen seitdem ein Lesepult. Das geht wunderbar", sagt Anja Botta. Wie geht die 38-Jährige, die 2006 das Pastorat an der Hagener Allee übernahm, damit um, dass jeden ersten Montag im Monat Mitglieder der Opferinitiative "Missbrauch in Ahrensburg" zur Mahnwache vor ihrer Haustür erscheinen? "Ich rede mit ihnen. Aber ich stelle mich nicht zu ihnen." Warum, begründet Angelika Weißmann so: "Wir teilen zwar die Empörung der Opfer, aber wir sind auch Vertreter der Institution, gegen die sie sich empören." Lisa Tsang ergänzt: "Es wäre auch anmaßend. Ich bin kein Opfer sexueller Gewalt gewesen."

Ein Zeichen der Solidarität ist der Hilfsfonds, den die Kirchengemeinde spontan eingerichtet hatte, um Opfern Therapien zu ermöglichen. Das Geld sei aufgebraucht. Einige Opfer erwägen nun, zivilrechtlich Entschädigungszahlungen zu erwirken. Das ist nur ein juristischer Aspekt. Alle bisher bekannten Taten sind strafrechtlich verjährt. So steht es im Gesetz. Die Pastoren wünschen sich, dass die Kirche einen Vorstoß in Berlin unternimmt, damit dieses Gesetz geändert wird. Paschen sagt: "Schwerwiegende Verfehlungen, an denen die Opfer ein Leben lang leiden, dürfen nicht verjähren."

Es ist Mittag, draußen läuten die Glocken von St. Johannes. Mütter holen ihre Kinder von der Spielgruppe ab. Für die Pastoren stehen heute noch Beerdigungen, Taufen und Traugespräche auf dem Programm. "Es ist schön zu erleben, dass es wieder so etwas wie spontane Zuwendung zur Kirche gibt", sagt Pastor Paschen und lächelt erleichtert. "Zuwendung zu einer Kirche, in der Menschen Mist gebaut haben. Ja."

Zum Schluss ergreift noch einmal Lisa Tsang das Wort: "Viele Menschen haben uns gefragt, wie habt ihr das eigentlich alles ausgehalten?" Und dann ist sie wieder ganz die alte Lisa Tsang. Fröhlich. Voller Hoffnung und Vertrauen. Sie lächelt und sagt: "Wir haben einander. Wir haben unsere Gemeinde. Und das tut gut." Wenngleich sie weiß, dass es den Opfern vielleicht nie wieder gut gehen wird.