Peter Lenke aus Großhansdorf war dabei, als von 50 Jahren die Mauer errichtet wurde. Als Zeitzeuge möchte er seine Erlebnisse an die heutige Generation weitergeben. Für die Stormarnausgabe des Hamburger Abendblatts erzählt er, wie die Ereignisse Teil seines Lebens wurden

Großhansdorf. Morgen ist es genau 50 Jahre her, dass mit dem Bau der Berliner Mauer begonnen wurde. Der Großhansdorfer Peter Lenke studierte damals in der geteilten Stadt. "Es war an einem Sonntag, das weiß ich noch ganz genau", erinnert er sich und fügt hinzu: "Niemand hatte sich das vorstellen können. Eine Mauer durch Berlin? Unmöglich." Doch die Geschichte zeigt: Es kam anders.

Peter Lenke wird 1933 in Berlin geboren. "Ich habe die gesamte Nazizeit miterlebt und vor allem aber auch die Nachkriegszeit, mit dem Wiederaufbau der Stadt", sagt er. Berlin wird auf der Jaltakonferenz im Februar 1945 in vier Sektoren geteilt, einen für jeden Alliierten. Peter Lenke lebt im Stadtteil Zehlendorf, im amerikanischen Sektor. Viel mitbekommen habe er von der Teilung anfangs nicht: "Zunächst konnte man ja als Berliner ganz normal durch die Stadt fahren. Viele Ost-Berliner haben zum Beispiel in West-Berlin gearbeitet", so der heute 77-Jährige. Selbst habe er regelmäßig das tolle Kulturangebot im Ostteil der Stadt genutzt, sei viel im Theater und der Oper gewesen. Insgesamt habe es nach dem Krieg eine große Aufbruchstimmung gegeben, erinnert er sich heute und sagt: "Es war eine dynamische Stadt und eine dynamische Zeit."

Jahre vor dem Bau der Mauer hatte es bereits immer wieder Auseinandersetzungen zwischen den Alliierten gegeben. "1948 machten die Sowjets alle Wege nach Berlin zu, und wir mussten durch die berühmte Luftbrücke versorgt werden", sagt Lenke. Es habe zwar immer Bedenken in der Bevölkerung gegeben, ob nicht doch ein neuer Weltkrieg ausbrechen würde, aber man habe einfach weitergelebt, erinnert er sich. An eine Teilung der Stadt oder sogar an einen Mauerbau habe niemand gedacht. Lenke: "Ich kann mich genau erinnern, wie ich im Radio, beim Sender RIAS, Walter Ulbricht, den Staatsratsvorsitzenden der DDR, hörte, wie er mit seiner Fistelstimme sagte: 'Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten.'" Es ist der 15. Juni 1961. Knapp acht Wochen später beginnt die DDR mit dem Bau der Mauer.

Peter Lenke erinnert sich: "Im August 1961 habe ich mit meinem Kommilitonen Heinrich Voß in einer Wohngemeinschaft in der Ihnestraße im Stadtteil Dahlem gelebt." Die beiden studieren Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Berlin und bereiten sich auf eine Klausur vor. Wie so oft hören sie RIAS: "Plötzlich wurde durchgesagt, dass Ost-Berlin abgeriegelt sei. Keiner würde mehr rein oder raus dürfen." In einer regelrechten Nacht- und Nebelaktion habe die DDR damit begonnen "die Zone", wie Berliner wie Peter Lenke den Ostteil der Stadt nannten, vom Westteil abzuschneiden. An Lernen war für die Bewohner der Zweieinhalbzimmerwohnung in der Ihnestraße nicht mehr zu denken: "Das ging unter die Haut, vor allem, weil mein Mitbewohner aus Sachsen-Anhalt stammte. Seine Eltern lebten drüben." Was Voß und Lenke damals nicht wissen können: Voß wird seine Eltern niemals wiedersehen. Einwohner von West-Berlin dürfen bis zu einem Passierscheinabkommen Jahre später nicht nach Ost-Berlin einreisen. Als es das Abkommen gibt, sind Voß' Eltern verstorben.

An jenem Sonntag gehen die beiden Studenten schließlich los, um sich selbst ein Bild zu machen. "Wir wollten wissen, wie man eine ganze Stadt abriegeln kann, das ist ja immerhin ein riesiges logistisches Unternehmen", sagt Lenke. Was sie gesehen hätten, sei ihnen surreal erschienen: "Da waren Soldaten von der NVA, der Armee der DDR, Polizisten und Arbeiter, die mit Presslufthämmern den Asphalt aufbohrten. Stacheldraht wurde auch verlegt", sagt der Ingenieur. Amerikanische Soldaten hätten das ganze von der Westseite beobachtet und nur aufgepasst, dass dort nichts passiere. Das die Amerikaner nur verhalten protestieren, für Peter Lenke eine Enttäuschung. Dass der US-amerikanische Vizepräsident Lyndon B. Johnson kurz nach Beginn der Bauarbeiten nach Berlin kommt, ist kein Trost: "Die Leute fragten sich: Wo war Kennedy? Er war unser Hoffnungsträger." Als die Mauer gebaut wird, ist er nicht da.

Lenke erinnert sich: Auf beiden Seiten hätten die Einwohner der Stadt die Bauarbeiten fassungslos betrachtet. "Manche Ost-Berliner waren ja zufällig gerade im Westen, als es losging, vielleicht auf der Arbeit. Plötzlich konnten oder wollten sie nicht mehr zurück. Auf beiden Seiten der Bauarbeiten gaben sich Familienmitglieder, die nun plötzlich getrennt waren, Handzeichen", sagt er. Die Presslufthämmer seien zu laut gewesen um sich etwas zuzurufen.

Besonders dramatische Szenen spielen sich in der Bernauer Straße ab. Der Großhansdorfer Lenke erinnert sich: "Dort waren die Häuser im Ostteil der Stadt, die Gehwege vor den Häusern aber im Westen. Die Bewohner kletterten teilweise aus den Fenstern nach West-Berlin. In die Freiheit. Die Soldaten der NVA versuchten, das zu verhindern und hielten die Leute an den Armen fest, während unten die West-Berliner an den Füssen zogen, um den Leuten zu helfen." Für Peter Lenke unfassbar: "Daran kann man mal die ganze menschenverachtende Perfidie der DDR sehen." Später wurden die Häuser an der Bernauer Strasse vom DDR-Regime zugemauert. Heute steht die offizielle Mauergedenkstätte in der Bernauer Straße.

Das Leben für Peter Lenke und alle Berliner muss auch nach dem Mauerbau weitergehen. "Wir lebten nun auf einer Insel", sagt er und fügt hinzu: "Aber wir konnten ja nicht einfach aufhören zu leben. Ich musste studieren und arbeiten." Berlin zu verlassen, sei trotz der angespannten Lage niemals für ihn in Frage gekommen. Zu jeder Zeit sei er sich jedoch der Bedrohung für seine Heimatstadt bewusst gewesen. Als sich am 27.Oktober 1961, sowjetische und amerikanische Panzer am Checkpoint Charlie gegenüber stehen sind Berliner wie Peter Lenke verunsicherter denn je: "Wir hatten einfach die Hoffnung, dass es sich nicht noch mehr zuspitzt. Zwar ging diese Episode gut aus, aber dennoch war es eine sehr aufgewühlte Zeit." Eine Begebenheit verfolge ihn bis heute.

"Es war der 17. August 1962. Ein 18-jähriger Mann, Peter Fechter, versuchte über die Mauer und den dahinter liegenden Todesstreifen in den Westen zu fliehen. Auf ihn wurde von der Ostseite aus geschossen und er lag schwer verletzt im Streifen. Auf RIAS wurde alles live übertragen. Er lag im Sterben. Zunächst hörte ich seine Hilfeschreie, dann wie er vor Schmerzen stöhnte. Schließlich war es zu Ende." Von der Westseite darf nicht geholfen werden und die Grenzposten der DDR lassen den jungen Mann verbluten. Für Lenke erschütternd: "Ich war fassungslos und verließ meinen Arbeitsplatz, um in einem Park erst einmal zur Ruhe zu kommen." Als Fechter tot war, wurde seine Leiche von den DDR-Grenzposten eingesammelt.

1974 verlässt Peter Lenke Berlin und zieht für seinen Beruf nach Norddeutschland, wo er jahrelang als Berater in der Verkehrsplanung in Hamburg arbeitet. Seit 1993 lebt er in Großhansdorf. "Im Herzen bin ich aber immer Berliner geblieben, die Stadt lässt einen so schnell nicht los", sagt er. Heute möchte er seine Erlebnisse an die Jugend weitergeben. "Die junge Generation kann ja nicht immer nachvollziehen, wie es damals gewesen ist. Aber das kann man ihnen nicht vorwerfen", sagt er und fügt hinzu: "Ich kann mich erinnern, dass ich auch nicht wirklich verstanden habe, wenn meine Eltern von der Hyperinflation in den Zwanzigern oder dem ersten Weltkrieg geredet haben."

Als Mitglied des Zeitzeugen-Kreises im Ahrensburger Peter-Rantzau-Haus besucht er immer wieder Schulen. Lenke: "Mein Anliegen ist es, Zeitgeschichte weiterzugeben. In den Schulen ist es immer sehr aufschlussreich, was die jungen Menschen so für Fragen haben." Es gehe ihm darum seinen Blickwinkel zu schildern, einen, der weniger unpersönlich sei als ein Geschichtsbuch. Er sagt: "Solange es noch Zeitzeugen gibt, sollten diese ihre Erlebnisse auch weitergeben."

Wenn Peter Lenke den Schülern seine Erinnerungen schildert, dann fallen ihm immer wieder zwei Begebenheiten ein, bei denen der SPD-Politiker Willy Brandt eine Rolle spielt. "Im Juni 1963 kam John F. Kennedy nach Berlin und fuhr mit dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer und Willy Brandt, damals Regierender Bürgermeister Berlins, durch die Stadt. Mir gelang dabei ein tolles Foto", sagt er. "Kennedys Besuch war wichtig für alle Berliner. Endlich war er da. Seine Anwesenheit allein machte uns Mut."

Eine andere Anekdote, die Peter Lenke bei seinen Besuchen als Zeitzeuge in den Stormarner Schulen gerne erzählt, spielt ein Vierteljahrhundert später. Wieder sieht er Willy Brandt, diesmal im Fernsehen. Es ist der 10. November 1989 und die Nation sitzt vor dem Bildschirm und feiert den Fall der Mauer: "Willy Brandt war da und fand genau die richtigen Worte. Er sagte: Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört." 50 Jahre Mauer, für Peter Lenke aus Großhansdorf ist das mehr als nur Geschichte. Es ist Teil seines Lebens.