Der Oldesloer Aygün Caglar musste lange und hart kämpfen, bis er mit 36 Jahren seinen Hochschulabschluss machen konnte. Der schwere Weg eines “Deutschen mit Migrationshintergrund“

Viele türkische Menschen werden das gleiche Schicksal haben wie ich, wenn sie sich nicht dagegen wehren", sagt Aygün Caglar. Er wirkt ernst und nachdenklich. Dabei hat der Oldesloer zurzeit eigentlich allen Grund dazu, glücklich zu sein. Denn er hat gerade seinen Studienabschluss in Sozialpädagogik geschafft. Mit 36 Jahren. Es war ein langer, schwieriger Weg.

Aygün Caglar wird in der Nähe von Köln geboren, wächst dort mit sechs Geschwistern auf. Er ist der Zweitjüngste. Seine Eltern stammen aus der Türkei. "Mein Vater kam 1959 nach Deutschland, um 10 000 Mark zu verdienen", sagt Caglar. "Dann wurden aus 10 000 Mark irgendwann 20 000 Mark und meine Eltern beschlossen, hier zu bleiben." Doch bereits in der Grundschule musste der Junge erfahren, was es bedeutet, Sohn türkischer Einwanderer zu sein. "An die Zeit erinnere ich mich ungern zurück", sagt Caglar und zündet sich eine Zigarette an. Zunächst sei er in einer türkischen Klasse unterrichtet worden. "Die Lehrerin hat uns geschlagen", sagt er. In der zweiten Klasse durfte er wegen seiner guten Deutschkenntnisse die Klasse wechseln. Das sei seine Rettung gewesen.

Doch in der vierten Klasse folgte der nächste Rückschlag. Trotz guter Schulnoten habe ihm sein Grundschullehrer geraten, zur Hauptschule statt zum Gymnasium zu gehen. Aber Aygün, du bist doch ein Türke, habe er gesagt, als der Viertklässler widersprach. "Das werde ich nie vergessen", sagt Aygün Caglar. Er wechselte trotzdem aufs Gymnasium - als erster Türke der Stadt. "Das war ein Ding", sagt er. "So etwas gab es vorher noch nicht."

In der zehnten Klasse erfährt der Jugendliche, dass seine Eltern bereits eine Ehe für ihn arrangiert haben. "Erst konnte ich das gar nicht glauben", erinnert sich Caglar. "Ich kannte die Frau bisher nur als eine Verwandte." Zwei Jahre später, als Zwölftklässler, ist er bereits verheiratet. Er habe versucht, sich zu wehren. "Aber die Angst vor meinem Vater war zu groß", sagt er. "Ich musste mich fügen, obwohl das gar nicht mein Weltbild war. Das ist ein typisches Schicksal, das viele Migranten in der zweiten Generation haben." Auch die meisten seiner Geschwister seien zwangsverheiratet worden.

Obwohl ihm die arrangierte Ehe große Probleme bereitet habe, schaffte er sein Abitur. Doch Anerkennung von seinem Vater habe ihm das nicht eingebracht. Caglar: "Er hat sich nie für die Schule interessiert." Nach dem Abitur habe er sofort arbeiten müssen. "Ich habe acht Jahre lang nur Hilfsjobs gemacht", sagt er. Mal arbeitete er trotz seiner großen Höhenangst als Dachdecker, mal in einem Imbiss. Die ganze Zeit habe er unter der Beobachtung seiner Eltern gestanden. Das änderte sich auch nicht, als er selbst Vater wurde. Er sagt: "Ich durfte nicht mit meinen Söhnen spielen oder sie in den Arm nehmen, wenn mein Vater in der Nähe war."

Vor acht Jahren habe er es nicht mehr ausgehalten. "Ich wollte mein eigenes Leben leben und nicht das meiner Eltern", sagt Caglar. Er kehrt seinen Eltern den Rücken und zieht mit seiner Frau und den Kindern ins mehr als 400 Kilometer entfernte Bad Oldesloe.

"Das schaffen nicht viele", sagt er. Die meisten könnten sich nicht von ihrer Familie losreißen - auch, weil ihnen die Bildung fehle, um ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Für Aygün Caglar und seine Frau bedeutete der Schritt jedoch eine große Erleichterung und Befreiung. Er sagt: "Wir konnten zum ersten Mal an uns selbst denken." Bereits kurze Zeit später beschlossen sie, sich scheiden zu lassen. Als seine Eltern davon erfuhren, hätten sie sofort eine neue Ehe für ihren Sohn arrangieren wollen. "Da habe ich mich zum ersten Mal getraut, meinem Vater zu sagen, dass ich selbst entscheiden möchte, wer meine Frau wird", sagt er. Inzwischen ist Aygün Caglar seit einem Jahr wieder verheiratet - eine Entscheidung aus Liebe. Seine Eltern seien gegen die Ehe gewesen, weil seine Frau in ihren Augen zu modern sei. Caglar: "Sie hat in Istanbul gelebt, trägt kein Kopftuch und ist weltlich sehr offen. So wie ich."

Trotz allem hat Aygün Caglar auch Verständnis für das Verhalten seiner Eltern. Es sei typisch für die große Gruppe türkischer Migranten, die in den 50er- und 60er-Jahren aus ländlichen Gebieten der Türkei nach Deutschland gekommen sei. "Sie haben ihre damalige Kultur konserviert - auch, weil sie nicht richtig integriert sind", sagt Aygün Caglar. Dabei seien viele der Traditionen, an denen die Migranten in Deutschland hartnäckig festhalten, in der Türkei selbst längst überholt. Bei Besuchen in Istanbul sei er immer wieder erstaunt, wie modern die Türken dort lebten. Caglar: "Das sind zwei verschiedene Welten. Dort streben alle nach Bildung."

Seit Aygün Caglar in Bad Oldesloe lebt, arbeitet er ehrenamtlich mit türkischen Migranten. Er betreut drei Jugendgruppen des Vereins "Für Integration und Toleranz" (FIT). Der Oldesloer spielt mit den Jugendlichen Fußball und versucht, sie für das Thema Bildung zu begeistern. "Ich will, dass sie etwas aus ihrem Leben machen. Sie haben noch alle Möglichkeiten. Ich möchte sie ermutigen, zu studieren", sagt der 36-Jährige. "Aber die jungen Türken hier denken, die Uni sei etwas Unerreichbares." Diese Auffassung sei vor allem den in der Regel ungebildeten Eltern geschuldet. Die Jugendlichen seien deshalb auf sich allein gestellt, wenn sie etwas aus ihrem Leben machen wollen.

Insbesondere den türkischstämmigen Mädchen mache er immer wieder deutlich, was ihnen drohe, wenn sie nichts aus ihrem Leben machen: "Sie werden mit einem Mann aus der Türkei verheiratet", sagt er und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: "Wir sagen dazu Exportbräutigam." Diese Männer seien in der Regel ungebildet, kämen ohne deutsche Sprachkenntnisse in die Bundesrepublik und würden dann als Hilfsarbeiter ihr Geld verdienen. Caglar: "Deren Frauen sollen nicht viel reden und dem Mann gefügig sein."

Doch viele seiner Bemühungen, die türkischstämmigen Oldesloer besser zu integrieren, scheiterten, weil den Migranten Steine in den Weg gelegt würden. So habe er erst kürzlich versucht, einem Migranten einen Ausbildungsplatz bei der Stadt zu vermitteln. Doch nach einem Praktikum sei die Entscheidung dann doch für einen deutschen Bewerber gefallen. Solche Ereignisse führten dazu, dass sich die türkischen Migranten immer weiter abschotteten. "Sie sehen keine Chance mehr", sagt Caglar.

Auch die Thesen von Thilo Sarrazin hätten die Migranten sehr enttäuscht. "Solange solche Aussagen nicht aufhören, werden sich die Türken nicht akzeptiert fühlen", sagt Caglar. Auch er glaubt nicht mehr an eine Gleichberechtigung von Deutschen und Migranten. Von Seiten der Gesellschaft müsse noch viel passieren, meint er. "Integration ist nicht nur Sache der Migranten, sondern auch der Deutschen. Sie müssen uns integrieren wollen."

Mit dem Wunsch, daran etwas zu ändern, ist Aygün Caglar vor einigen Jahren in die Politik gegangen. Er ist Mitglied der CDU und sitzt im Bildungs-, Sozial- und Kulturausschuss der Stadt. "Aber es ist schwierig", sagt er. "Es gibt Machtkämpfe zwischen den Parteien. So hatte ich mir das nicht vorgestellt." Dabei hat der 36-Jährige konkrete Vorstellungen davon, was getan werden müsste. Er sagt: "Es sollte zum Beispiel nicht nur eine Frauen- und Behindertenquote geben, sondern auch eine für Migranten." Auch fordert er, dass Migranten besser informiert werden, zum Beispiel über das Bildungspaket oder die Angebote der Arbeitsagentur.

Aygün Caglar fühlt sich als Deutscher - auch wenn er von den meisten Menschen als Türke wahrgenommen wird. Seit elf Jahren besitzt er die deutsche Staatsbürgerschaft. "Die Türkei ist mir fremd", sagt er. "Dort gehöre ich nicht hin. Ich würde in der Türkei höchstens Urlaub machen." Es nerve ihn, wenn er Sprüche wie "Sie können aber sehr gut deutsch" zu hören bekomme. Immer wieder stelle er sich dann die Frage, wer er eigentlich sei. "In Deutschland werde ich diskriminiert, weil ich ,Ausländer' bin", sagt er, "und in der Türkei werde ich nicht akzeptiert, weil ich für die der Deutschländer bin."

Es habe Mut erfordert, mit 32 Jahren noch einmal ein Studium zu beginnen. Insbesondere, weil er sich alles über Kredite habe finanzieren müssen. "Aber ich wollte nicht mein Leben lang als Hilfsarbeiter arbeiten. Ich wollte Sicherheit für meine Kinder", sagt er.

Seine Bachelor-Arbeit hat Aygün Caglar über die Integration türkischstämmiger Jugendlicher am Beispiel des FIT-Vereins geschrieben. Nun ist der 36-Jährige auf Jobsuche, schreibt Bewerbungen. Am liebsten würde der Sozialpädagoge mit türkischstämmigen Jugendlichen arbeiten, zum Beispiel an einer Schule in einem sozialen Brennpunkt in Hamburg wie Wilhelmsburg, Billstedt oder Altona. Dort könne er am meisten helfen, weil er präventiv tätig werde. Aygün Caglar nimmt noch einen Zug von seiner Zigarette, dann sagt er: "Wenn ich Menschen helfen kann und dabei auch noch Geld verdiene, wäre das meine Lebenserfüllung."