Das Abendblatt trifft Menschen auf ihrer Lieblingsbank. Heute: Wie der Straßenmusiker Jewgenij Tschi die Liebe zur Musik entdeckt hat.

Ahrensburg. An schönen Tagen sitzt er am Ahrensburger Rondeel und verzaubert seine Zuhörer mit akustischen Gitarrenklängen. Jewgenij Tschi spielt Brahms, spanische Romanzen und Eigenkompositionen. Jeder, der die Melodien hört, möchte unwillkürlich die Augen schließen und sich seinen Gedanken hingeben, die dann von den romantischen Klängen beflügelt davonschweben.

Jewgenij Tschi trägt das traditionelle Unterhemd der Matrosen der russischen Marine. Tel'njaschka, das blau-weiß quer gestreifte T-Shirt, ist auch bei Russen, die nicht zur See fahren, sehr beliebt. Genauso wie das Gitarrespielen.

"Die ersten Akkorde habe ich von anderen Jungen gelernt, die bei uns auf dem Hinterhof regelmäßig abends geklampft haben", sagt der 45-Jährige. Er habe den anderen auf die Finger geschaut und den Akkord dann selbst auf der Gitarre probiert. "Könige der Hinterhöfe hießen sie", sagt Tschi, der aus dem russischen Barnaul kommt. In der Hauptstadt der Region Altai im Süden Westsibiriens ist er geboren und aufgewachsen.

"Als ich acht Jahre alt war, wollten meine Eltern, dass ich Bajan lerne, schickten mich sogar zum Musikunterricht." Das Spielen des Knopfakkordeons gab Jewgenij Tschi schnell auf. Er lauschte lieber Abend für Abend den Jungs, die sich auf Bänken hinter seinem Haus versammelten und Songs von allseits beliebten, aber vom Sowjet-Regime verbotenen Rock-Gruppen wie Maschyna Vremenij, Tschaif oder Nautilius Pampilius spielten.

"Der Größte war der, der die meisten Lieder der Bands auswendig kannte", sagt Tschi. Ende der 70er-Jahre gab es in der damaligen Sowjetunion kaum Abspielgeräte für Musikkassetten. Zudem drohte dem, der Aufnahmen von verbotenen Musikern besaß, nicht selten Gefängnis.

Also spielten sich Jugendliche die Lieder der Rockgruppen, die sich zu dieser Zeit vor allem in den russischen Großstädten Moskau und Leningrad (heute St. Petersburg) formierten, heimlich vor. So viele Lieder wie möglich lernten sie auswendig, brachten sich gegenseitig die dafür nötigen Gitarrenakkorde bei. Noten kannte keiner von ihnen, alle lernten über das Gehör.

"Jungs, die Gitarre spielten und dazu sangen, waren bei Mädchen besonders beliebt", sagt Jewgenij Tschi. Da sei es kein Wunder gewesen, dass auch für ihn das Gitarrespiel immer wichtiger wurde. "Seit meinem 13. Lebensjahr war ich ständig verliebt", sagt er lächelnd. "Musik zu machen, hat mir geholfen, meine Gefühle auszudrücken. Wenn ich spielte, habe ich mir vorgestellt, das nur für meine Herzdame zu tun."

Die Liebe zur Musik und sein Talent bescherten dem Russen einen Platz auf dem Konservatorium in seiner Heimatstadt Barnaul. "Dort habe ich das Dirigieren gelernt und wurde in Klassik- und Jazz-Gitarre ausgebildet."

Später wurde Tschi auf der Musikhochschule angenommen. Doch nach ein paar Semestern warf er hin. "Die konnten mir nichts beibringen, was ich nicht schon beherrschte", sagt er. Als Autodidakt beschäftigte sich Tschi seit Ende der 80er-Jahre mit Musik aus China, Japan und Indien. Zudem gründete er 1987 eine Band. Den Stil von "Uncle Goh" könne man als Barock-Rock bezeichnen. Die anderen Bandmitglieder spielten Piano, Bass und Geige.

In den 90er-Jahren heiratete Tschi, sein Sohn Ignat wurde geboren. "Mein Junge ist ein Tennistalent", sagt er. In Barnaul habe der Junge alle Pokale gewonnen. Jetzt reist Jewgenij Tschi mit Ehefrau Galina und dem inzwischen 17 Jahre alten Sohn quer durch Europa zu wichtigen Turnieren. "Seit Mai ist Ignat beim SV Blankenese", sagt der Vater. Sein Sohn zähle zu den besten Hamburger Spielern in seiner Altersklasse. "Gerade hat er den Hamburger Stadtpokal gewonnen", sagt Tschi. Am kommenden Wochenende geht es zu einem internationalen Turnier nach Prag.

Wenn zwischen Spiel, Satz und Sieg noch Zeit bleibt, setzt sich Tschi in die Fußgängerzone einer norddeutschen Stadt und spielt. Derzeit lebt die Familie bei Freunden in Hamburg-Tonndorf.

"Es macht mich glücklich, wenn Menschen von meiner Musik berührt werden", sagt er. Oft werde er von Passanten angesprochen. "Sie sagen dann, mein Spiel entspanne sie." Besonders begeisterte Zuhörer kaufen ihm dann eine CD ab, die er in Eigenregie produziert hat. Andere laden ihn zu einem Privatkonzert zu sich nach Hause, einem Jubiläum oder einer anderen Feierlichkeit ein.

Selbst hört und spielt Jewgenij Tschi am liebsten Weltmusik. "Die Mischung aus Klassik und elektronischer Musik, aus westlichen und östlichen Einflüssen fasziniert mich." Auch Folkmusik aus Afrika, Asien und Europa liebt er. Begeistert sammelt Tschi, der in Barnaul eine Musikschule betreibt, auch Musikinstrumente aus aller Welt. "Meine neueste Errungenschaft ist ein Hang", sagt er. Das Musikinstrument sieht aus wie zwei aneinander geklebte Woks. Die aus Stahlblech bestehenden Halbkugelsegmente klemmt sich der Spieler zwischen die Beine und spielt sie ähnlich einer Trommel mit den Händen. Die Klänge erinnern an karibische Steel Drums oder einen buddhistischen Gong.

"Vielleicht komme ich im nächsten Sommer damit nach Deutschland", sagt Tschi. Allerdings habe er ein wenig Probleme mit den Ordnungsämtern. Der Verstärker, den er an seine Gitarre angeschlossen hat, ist nicht erlaubt. "Ohne den hören die Menschen meine Melodien einfach nicht gut genug", sagt er, "und sie hören sie doch so gerne." So geht Jewgenij Tschi immer mit der Hoffnung in die Fußgängerzonen, dass die Behörden ein Auge zudrücken. Damit seine Zuhörer auch in Zukunft beim Hören der Musik für ein paar Minuten dem Alltag entschweben können.