Im Ahrensburger Café Gerads scheint die Zeit stillzustehen. Stammgäste kommen seit mehr als 60 Jahren, um vom hektischen Alltag abzuschalten

Ahrensburg. Der Tisch ist rund, die Decke darüber altrosafarben. Und ganz obenauf liegen die Spielkarten. Es sind mehrere Reihen, ordentlich sortiert. Und ein ganz dicker Stapel daneben. "Rommé", sagt Maria Thater, in ihrer Stimme schwingt ein erklärender Unterton mit. Ihre Augen wandern die Kartenreihen ab, dann das eigene Blatt in der Rechten. Und dann legt sie ab: Pik-Dame, Pik-König, Pik-Ass. Fertig. Maria Thater hat ein gutes Blatt. Maria Thater hat gute Laune. Aber das liegt nicht nur am Glück im Spiel.

Der Tisch ist rund, er ist groß und bietet Platz für vier weitere Damen. Zu fünft treffen sie sich einmal in der Woche. Zum Kartenspielen. Aber auch, um sich näher kennenzulernen. "Unser Kreis hat sich in den vergangenen Jahren ganz schön verjüngt", sagt Maria Thater. Dann stellt die 89-Jährige ihre Mitstreiterinnen vor: Zu ihrer Linken Maria Schmitz, 85. Daneben Inge Degler, die ihr Alter nicht preisgeben möchte. Rechts neben Maria Thater sitzt Irmgard Bolloff, 85, die die Schwiegermutter ihrer Tochter mitgebracht hat. Rosemarie Dietz heißt die Neue, die auch schon 91 ist.

Es ist ein warmer Frühlingsmorgen, doch die Sonne findet ihren Weg nicht bis in die hinterste Ecke im Ahrensburger Café Gerads. Der runde Tisch gleich hinter dem Aquarium ist der Stammtisch der fünf Damen. Das Caféhaus an der Hamburger Straße ist ihr zweites Wohnzimmer.

Es ist ein Ort, der Geborgenheit ausstrahlt wie das eigene Zuhause. Weil die Zeit hier nicht so schnell voranzuschreiten scheint wie draußen vor der Tür. Weil vieles genauso aussieht, wie es schon immer ausgesehen hat. Das schafft Vertrauen. Die champagnerfarbenen Tapeten über der dunkelbraunen Holzvertäfelung zum Beispiel, der beinahe wandfüllende Spiegel, die Kronleuchter, die dicken Velourspolster auf den Stühlen, die farblich auf die Tischdecken in Altrosa abgestimmt sind.

Das Café ist knapp zwei Jahre älter als die Ahrensburger Stadtrechte. Der Chef ist deutlich jünger. Stefan Gerads, 42, führt diese Institution in der dritten Generation. Sein Großvater Joseph, ein Konditormeister aus Wuppertal, der nach dem Krieg irgendwie in Ahrensburg gelandet war, gründete die Konditorei 1947 im Lindenhof am Bahnhof - dort, wo heute ein großer Parkplatz ist. Die Stadt, voller Flüchtlinge, hatte einen Hungerwinter hinter sich, Lebensmittel waren rationiert. "Nusstorte gab es trotzdem vom ersten Tag an", sagt Stefan Gerads. Es war dieselbe Zeit, in der auch Maria Schmitz aus der Kartenrunde nach Ahrensburg kam. "Das Café Gerads kenne ich vom ersten Tag an", sagt sie.

1952 investiert Joseph Gerads in einen Neubau. Das Wirtschaftswunder war auch bei ihm angekommen. Und sein Haus mit der Nummer 7 war das neueste und eines der größten an der Hamburger Straße. Heute zählt es zu den kleineren und zu den ältesten.

Nusstorte gibt es immer noch. Und wer möchte, bekommt seinen Filterkaffee nach wie vor im weißen Porzellankännchen serviert. Die meisten Kunden möchten das. Und doch dreht der Chef an den Stellschrauben der Moderne. Ganz langsam. So langsam, dass es am besten nicht auffällt. Wer möchte, kann bei ihm zum Beispiel eine Torte mit einer essbaren Fotografie als Decke in Auftrag geben. Und neben dem Tresen steht - auffällig, aber eben doch lieber nicht zu prominent - auf einem Schild eine Phrase geschrieben, die vielen älteren Menschen ein Dorn im Auge ist: "Coffee to go".

Nein, ihren Kaffee wollen sie nicht aus einem Pappbecher trinken, die Stammkunden. Schon gar nicht wollen sie damit durch die Gegend laufen. "Ich schätze hier, dass ich nicht am Tresen stehen und mir alles selbst zusammensuchen muss", sagt Willy Eggers. Seit zehn Jahren kommt der 84 Jahre alte Witwer fast jeden Morgen ins Café. Trinkt einen Tee, isst ein Marmeladenbrötchen. Liest die Zeitung. "Ich frühstücke nicht gern allein", sagt der pensionierte Manager. Dass er am Einzeltisch sitzt und sich mit keinem unterhält, stört ihn nicht. "Die Geräuschkulisse, das Ambiente, das ist es, was ich mag." Er habe wohl auch schon mal andere Cafés ausprobiert. "Aber das war nichts für mich."

Cafés sind Geschmackssache. Auch am Café Gerads scheiden sich die Geister. "Viele sagen: Schön, dass es so etwas noch gibt", sagt Stefan Gerads, "andere drehen auf der Schwelle um." Er kennt dieses Haus kaum anders, als es heute ist. Er ist quasi im Café und in der Backstube aufgewachsen. Er hat niemals auch nur daran gedacht, einen anderen Beruf zu ergreifen als sein Großvater und sein Vater Klaus-Peter. Trotzdem treibt ihn der Gedanke an eine Veränderung um. Muss das Café moderner werden, um auch jüngere Menschen anzusprechen? Wie würde die an Lebensjahren ältere Stammkundschaft darauf reagieren? Ist es falsch, den Fokus auf die Senioren zu richten? Oder ist es, ganz im Gegenteil, goldrichtig - schließlich werden alle Menschen alt, und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung steigt stetig.

Lieselotte Köpke, 79, und Ursula Lange, 72, betreten das Caféhaus. Der Tisch ganz vorn an der großen Panoramascheibe - der Blick hinaus fällt direkt auf die moderne Fassade des gerade sanierten Sparkassen-Gebäudes - ist noch frei. Auch er ist rund, mit einer altrosafarbenen Tischdecke darauf. Die beiden Trittauerinnen, die sich nach einem Arztbesuch belohnen wollen, nehmen Platz. Yvonne Gerads, 35, einst Angetraute des Chefs, schwebt heran. In einer Hand balanciert sie Kännchenkaffee auf ovalem Blechtablett, in der anderen zwei Teller mit Torte. "Ach", sagt Lieselotte Köpke und strahlt dankbar, "es ist eben ein bisschen feiner hier. Schön, dass es so etwas noch gibt."

Am anderen Ende des Raums, direkt hinter dem Aquarium, ist das Kartenspiel noch in vollem Gange. "Man kommt hier rein, man denkt, niemand hat einen bemerkt. Und dann steht der Kaffee plötzlich auf dem Tisch", sagt Maria Thater. "So kenne ich das schon seit mindestens 20 Jahren." Der Tisch ist rund, die Decke darüber altrosafarben. Und ganz obenauf liegen die Spielkarten. Maria Thater lächelt. Sie hat gute Laune. Sie hat ein gutes Blatt.