Schule schließt aggressiven Jungen vom Unterricht aus. Großmutter fühlt sich von Behörden alleingelassen

Reinbek. Klaviermusik tönt durch die Wohnung. Marios (Name geändert) Finger streichen sicher über die Tasten. Einige Stücke vom Amelie-Soundtrack beherrscht er schon, obwohl der Zehnjährige erst seit knapp einem Jahr Klavier spielt. Sein Bücherregal im Kinderzimmer platzt aus allen Nähten. Mario liest alle Bücher, die ihn in die Welt der Elfen und Drachen entführen. Am liebsten aber hat er es, wenn seine Oma ihm aus Michael Endes "Eine unendliche Geschichte" vorliest, ihn dabei in den Arm nimmt.

Zahl auffälliger Schüler in Stormarn nimmt zu

Wer Mario so kennenlernt, kann sich kaum vorstellen, dass der Junge auch eine andere Seite hat. Mario gilt als schwer beschulbar. So wie immer mehr Kinder und Jugendliche im Kreis Stormarn. In den vergangenen drei Jahren stieg der Prozentsatz der Schüler, die integrative Maßnahmen und somit eine besondere Betreuung im Schulunterricht in Anspruch nehmen müssen, von 4,1 auf 5,9 Prozent. "Wir haben zunehmend mehr Kinder mit körperlichen und motorischen, aber eben auch mit sozial-emotionalen Defiziten. Da gibt es eine deutliche Zunahme", sagt Schulrätin Kerstin Blohm-Leu. Jedes Jahr muss der Kreis mehr Kosten für Eingliederungsmaßnahmen aufbringen. Laut Wilhelm Hegermann, Amtsleiter für Jugend, Schule und Kultur, sind es derzeit eine Million Euro im Jahr. "Und das ist weiter massiv ansteigend." Ein Grund ist das neue Schulgesetz. Förderschulen werden geschlossen, Schüler in den normalen Schulunterricht eingegliedert. Auch eine zunehmend falsche Erziehung sehen Experten als Ursache.

Gewalt- und Wutausbrüche hätten Mario zur Gefahr gemacht

Mario hat schon fünf Schulen besucht, zahlreiche andere haben ihn erst gar nicht aufgenommen. Nach dem letzten Rauswurf ging er vier Monate nicht zur Schule, sondern saß untätig zu Hause - bei seiner Oma Frieda S. (Name geändert). Zuletzt besuchte Mario die Wentorfer Regionalschule im Lauenburgischen. Durch seine Gewalt- und Wutausbrüche aber sei er eine Gefahr für seine Mitschüler, teilte die Schule der 61 Jahre alten Erziehungsberechtigten mit. Auch habe er eine nackte Frau gezeichnet. "Ich kann nicht nachvollziehen, dass so darauf reagiert wurde. Das sind doch Pädagogen. Und sie kannten Marios Geschichte - und seine Probleme", sagt sie verärgert über die Lehrkräfte, die Mario zu schnell fallen gelassen hätten. Schulleiter Ronald Faust, der sich zu Einzelfällen nicht äußern möchte, sagte, dass es vielen betroffenen Familien schwer falle, sich die Defizite ihrer Kinder einzugestehen und zu erkennen, dass manchmal andere Maßnahmen ergriffen werden müssten - der Besuch einer normalen Schule nicht möglich sei. Die alleinerziehende Großmutter schildert Marios erste Lebensjahre als alles andere als eine heile Welt. Gewalt und Psychoterror bestimmten bis zu seinem fünften Geburtstag seinen Alltag. Er musste mit ansehen, wie seine Mutter immer wieder von seinem Vater missbraucht und misshandelt wurde. Über den Fernseher flimmerten Filme für Erwachsene, laute Musik dudelte bis spät in die Nacht in der Einzimmerwohnung, in der die dreiköpfige Familie wohnte. Manchmal lebte Mario mit seiner Mutter auf der Straße, wenn sie sich nicht nach Hause traute. Die Erfahrungen haben das Kind gezeichnet. Mario ist traumatisiert, leidet situationsbedingt massiv unter unkontrollierbaren Wutanfällen. Er wird verbal verletzend, lässt sich nur schwer beruhigen. "Das kostet manchmal so viel Kraft, aber es wird besser, wenn man mit dem Jungen arbeitet", sagt Frieda S., die sich das Sorgerecht erkämpfte und mittlerweile Unterstützung vom Weißen Ring und einer Psychologin bekommt. Von den Ämtern fühlt sie sich alleingelassen.

"Was der Junge durchgemacht hat, kann sich kaum jemand vorstellen", sagt auch Dieter Skodda. Der Polizeibeamte engagiert sich seit Jahren im Weißen Ring. "Gerade jetzt kann noch etwas gemacht werden. Der Junge ist erst zehn Jahre alt." Skodda fordert von den Verantwortlichen im Kreis mehr Verantwortungsgefühl. "Es kann doch nicht sein, dass das Problem alleine auf Frau S. abgeschoben wird. In Deutschland gibt es eine Schulpflicht", sagt Skodda erbost. Dass Pädagogen so reagieren, könne er nicht nachvollziehen.

"Wir bemühen uns immer um eine gute Lösung", sagt die Schulrätin

Schulrätin Kirsten Blohm-Leu, die sich aus Datenschutzgründen nicht zu dem Fall äußern will, sagt, dass es generell immer ein Koordinierungsgespräch mit der Jugendhilfe, den Erziehungsberechtigten, infrage kommenden Schulen und sogar Therapeuten gebe, um für das Kind die beste Möglichkeit der Beschulung und geeignete Integrationsklassen zu finden. Dabei werde vor allem auf den Wunsch der Eltern eingegangen. "Wir bemühen uns immer um eine sehr gute Lösung."

Marios Lösung aber ist zunächst eine Zwischenlösung - eine Tagesklinik für auffällige Grundschüler in Büchen. Jeden Morgen wird er mit einem Taxi abgeholt. "Die Klinik mit dem Unterricht entspricht nicht seinen Bedürfnissen. Dort ist er völlig falsch - auch, wenn sie sich dort Mühe geben", sagt S. Außerdem könne er die Klinik nur noch für ein paar Wochen besuchen, wie es weitergeht, stehe noch in den Sternen. "Die Ämter interessiert das nicht wirklich. Sie sagen, ich sei der Vormund und verantwortlich für die Beschulung." Was Mario aber dringend brauche, sei ein Betreuer im Unterricht, der ihn in brenzligen Situationen beruhige. Doch den zu bekommen, werde ihr derzeit schwer gemacht.

Großmutter kämpft für einen Betreuer, eine gute Schule und eine Therapie

"Dabei gibt es ein Gutachten, das die Notwendigkeit eines Betreuers bescheinigt. Aber das Jugendamt will den nicht bezahlen, und die Krankenkasse übernimmt nur 200 Euro für drei Stunden die Woche", sagt S. verärgert. Mit dem Jugendamt habe es etliche Sitzungen gegeben - jedoch ohne ein wirkliches Ergebnis. "Das Dreisteste war, dass mir eine Frau vom Amt das Heim als Alternative vorschlug", erzählt sie mit Tränen in den Augen. Das Kreisjugendamt will aus Datenschutzgründen keine Stellung beziehen.

Marios Oma kämpft weiter - für einen Betreuer, eine gute Schule und eine Trauma-Therapie für Mario. "Durch die Traumatisierung fällt es ihm schwer, sich an Regeln zu halten", sagt die Psychologin Francisca Volland. Jetzt sei es wichtig, dass für Mario die richtige Therapie gefunden wird. Gemeinsam mit Dieter Skodda will sie auch für eine Delphin-Therapie sammeln. Möglich, dass Mario für einige Zeit in eine stationäre Einrichtung muss. Danach sei eine Schule mit Fingerspitzengefühl für traumatisierte Kinder gefragt. "Eine, in der Kinder auch mal in den Arm genommen und nicht gleich bestraft und ausgegliedert werden."