Rezepte gegen Lampenfieber vor dem Auftritt: Ein Blick hinter die Kulissen der Theatergruppe der VHS Sachsenwald

Reinbek. Der Abend beginnt mit Herrn Wieghorsts Verwandlung. In weißen Schlappen, weißer Hose und blauem Poloshirt stapft Ernst Wieghorst, 49, die Treppen des Reinbeker Schlosses hoch, die Arbeitskluft des Heilpraktikers. Das Schloss ist leer und still, Wieghorst läuft durch den Festsaal, immer entlang der großen Bühne, auf der er später auftreten wird.

Es riecht nach Schminke und Parfüm, das Licht ist gedämpft. In zwei Stunden beginnt die Vorstellung. Ernst Wieghorst bindet sich das Hemd mit einer Fliege zu, zieht eine Anwaltsrobe über und setzt eine dicke, runde Brille auf. "Erkennen Sie mich noch?", fragt er. Aus Heilpraktiker Wieghorst ist Doctor Lombardi geworden, eine der neun Figuren im "Diener zweier Herren", einem Schauspiel aus dem 18. Jahrhundert von Carlo Goldoni.

Später werden in der Garderobe neun Darsteller dem Auftritt entgegenfiebern, durch die Tür in den Saal linsen, Lampenfieber haben. Auf der langen Tafel in der Mitte wird die Souffleuse später Sekt einschenken, sie hat einen runden Geburtstag. Später wird großer Bahnhof sein in der Garderobe. Noch knarzt nur das alte Parkett unter den Schritten von Ernst Wiegholz.

Theater im Schloss Reinbek. Neun Figuren, neun Verwandlungen. Das Schloss ist Schauspielhaus an diesem Abend, der Festsaal die Bühne. Es spielt die Theatergruppe der Volkshochschule (VHS) Sachsenwald. Noch sind die 250 Stühle leer, später wird die Leiterin der Gruppe zusätzliche Stühle herbeischaffen müssen. Die Leiterin, das ist Brigitte Oels. Um kurz vor sechs steht sie in der Tür der Garderobe, wo eine kleine Gruppe von Schauspielern um den Schminktisch steht. Brigitte Oels breitet die Arme aus, als wollte sie alle Darsteller auf einem Fleck umarmen.

Oels ist Lehrerin und Theaterwissenschaftlerin. "Wissen Sie", sagt sie, "das Schöne ist: Die meisten Darsteller bleiben uns jahrelang treu." Oels sagt, ihr Theater sei anspruchsvoll: Brecht, Frisch, Dürrenmatt. "Keine Weihnachtsmärchen!", ruft Oels und spricht das aus wie ein Schimpfwort. Sie hat das Theater vor 23 Jahren gegründet, inzwischen muss sie die Teilnehmer in zwei Gruppen aufteilen, jede davon arbeitet an einer Inszenierung.

Der Techniker läuft vorbei, 78 Jahre ist er alt. "Wir müssen aufpassen, dass er nicht die Scheinwerfer trägt", sagt Oels. So ist das im Amateurtheater: Drei Schauspielerinnen machen nebenher noch die Maske, einer kümmert sich um das Licht, wenn er nicht auf der Bühne steht, und die Musik zum Szenenwechsel spielt Brigitte Oels selbst ein.

In der Garderobe gibt es Sekt. Die Souffleuse hat einige Flaschen geköpft. Die meisten trinken alkoholfrei. "Heute trinken wir...", setzt Brigitte Oels an und will der Jubilarin gratulieren. Aber da schreit schon einer dazwischen: "...umsonst!" Und der nächste gratuliert der Jubilarin herzlich direkt: "Auf die nächsten 70!"

Der Hauptdarsteller hat inzwischen auf dem Schminkhocker Platz genommen. Sebastian Prasse ist 22, und er verkörpert an diesem Abend den Diener Truffaldino, der beschließt, zwei Herren zu bedienen und damit doppelt Geld zu verdienen. Weil das nicht ohne Komplikationen ablaufen will, behilft sich Truffaldino mit reihenweise Notlügen. Das Wirrwarr kann am Ende nur noch er selbst auflösen - mit seinem jungenhaften Charme.

Prasse trägt eine etwas zu große Latzhose aus Jeansstoff, er schließt die Augen, während ihm eine Kollegin die Wimpern nachzieht. Prasse spricht in der Garderobe kein Wort zu viel. Auf der Bühne hat er später seinen großen Auftritt, das Publikum wird ihm innerhalb einer Szene mehrmals applaudieren und nach der Vorstellung zujubeln.

Sebastian Prasse studiert seit ein paar Wochen an der Schule für Schauspiel in Hamburg. Brigitte Oels hat ihn für eine ihrer Schultheatergruppen entdeckt, ihn dann zur VHS geholt. Jetzt schickt er sich an, Berufsschauspieler zu werden. "Das Tolle am Schauspiel ist, dass man nicht festgelegt ist", sagt er. "Ich kann heute den Helden geben und morgen den Bösen." Prasse weiß jetzt schon, dass er später lieber am Theater spielen will als im Film. "Zum Publikum zu sprechen, das ist einfach ein anderes Gefühl, als wenn man immer nur durch die Kamera schaut."

Nervosität liegt jetzt in der Luft, die Schauspieler sind fertig geschminkt, fertig gekleidet. Ein Mann und eine Frau machen progressive Muskelentspannung. Das heißt: Er leitet sie an, wie sie ihren Körper schütteln möge. "Der Po muss mitwackeln!", verlangt er. Darauf sie: "Der wackelt von allein." Er: "Also, ich muss mich dafür anstrengen." Sie, jetzt schon einige Zeit in Aktion: "Das ist ja wie beim Aqua-Jogging hier!"

Björn Hübner ist für seine Rolle in ein schwarzes Lederoutfit geschlüpft, eine Sonnenbrille steckt im vom Gel verklebten Haar. Er sieht nicht so aus, als wäre er nervös. "Bin ich aber doch", sagt er, "seit drei Minuten." Bei ihm gehe das Lampenfieber immer etwa zehn Minuten vor der Vorstellung los. Glücklicherweise, sagt Hübner, sei es aber "sofort weg, sobald man auf der Bühne das erste Wort gesagt hat".

Sebastian Prasse liebt den Kontakt zum Publikum. Aber im Schloss sei es etwas zu viel. "Man ist durch nichts getrennt", sagt er. "Es gibt keinen Bühnengang, keinen Vorhang, nichts." Er kann den Zuschauern nicht aus dem Weg gehen, er muss im Saal stehen, bevor es losgeht, und wird sich in der Pause wieder durch die Menge drängeln müssen, um zur Toilette zu kommen. Und wenn er zurück ist, wird ein Mann mit weißem Vollbart durch die offene Garderobentür "Bravissimo!" rufen.

Ernst Wieghorst genießt diese Nähe. Er hat heute den Einlassdienst gewonnen. Die Zuschauer strömen in den Saal. Wieghorst wünscht hier "Einen wunderschönen Abend, die Damen!", dort "Viel Vergnügen!". Ab und zu schaut er auf die Karten und ruft: "Das ist ja die Vorstellung von morgen!" Der Scherz, sagt Wieghorst, komme immer wieder gut an. Nervosität? Nicht bei Wieghorst. Er sei "eine Rampensau".

Sebastian Prasse sagt, etwas Lampenfieber habe er immer. "Ein gewisses Grund-Adrenalin." Er will jetzt raus auf die Bühne, es steht im ins Gesicht geschrieben. Brigitte Oels erlöst ihn. Sie kommt in die Garderobe gelaufen, endlich. "Viel zu viele Zuschauer" seien da, sagt sie. Aber man könne die Leute doch auch nicht wegschicken. Wie eine Trainerin feuert sie das Ensemble an:

"Toi, toi, toi, laut und kräftig!"

"Ihr müsst den Saal füllen!"

"Spielt euch 'nen Wolf!"

Um kurz nach 20 Uhr erlischt das Licht im Festsaal. Der Rest ist Theater.