Pastorin Jensen zum Missbrauchsskandal: “Jeder muss sich fragen, wie er als Handelnder, Zusehender oder Schweigender verstrickt ist“

Ahrensburg. Fernsehkameras sind auf den Altar gerichtet, Tontechniker prüfen Mikrofone, rund 150 Menschen sitzen erwartungsvoll auf den Kirchbänken der Schlosskirche. Es war ein Buß- und Bettagsgottesdienst, wie ihn die Gemeinde nie zuvor erlebt hat. Stand er doch ganz im Zeichen des Missbrauchsskandals, den zwei Pastoren auslösten, die sich während ihrer Amtszeit Ende der 70er bis Mitte der 80er Jahre im Kirchsaal Hagen an Schutzbefohlenen vergangen haben sollen. Buße habe etwas mit Selbsterkenntnis zu tun, im besten Sinne mit Moral, sagt Pastor Holger Weißmann zur Eröffnung. Dann verliest er eine Mitteilung der Nordelbischen Kirche, die die Entlassung des Hauptbeschuldigten, Pastor Dieter K., und das Ende seines Disziplinarverfahrens bestätigt. Ein Seufzen geht durch die Reihen. Mit Inbrunst singt die Gemeinde "Eine feste Burg ist unser Gott".

Pastorin Susanne Jensen aus Owschlag, selbst Missbrauchsopfer, spricht von der Kanzel. "Denn wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit", zitiert sie aus dem ersten Korintherbrief. Die Opfer in Ahrensburg litten lebenslang. "Es gibt keine neue Seele, keine neue Kindheit und Jugendzeit", so Jensen. "Jeder muss sich im Sinne der Buße selbst fragen, wie er in die Ereignisse als Handelnder, Zusehender, Schweigender oder Beurteilender verstrickt ist."

Ihr sei vor diesem Gottesdienst gesagt worden, sie mache sich mit ihrer Predigt selbst zur Täterin, weil sie als Missbrauchsopfer befangen sei und Zorn predige. Jensen: "Doch weil ich Pastorin bin, kann und will ich zu Ahrensburg nicht schweigen."

Und sie mahnt: "Ihr Ahrensburger müsst den langen Weg zur Versöhnung, diesen Bußweg, beschreiten. Das nimmt Euch keiner ab, auch nicht die Kirchenoberen." Zur Buße gehöre auch, die Bedürfnisse des anderen wahrzunehmen. Jensen dankt den amtierenden Ahrensburger Pastoren für ihre "Mühe, sich in Missbrauchsopfer hinein zu denken". Mit der Aufklärung umzugehen, sei für alle sehr schwierig, "es ist die größte menschliche Herausforderung". Die Gottesdienstbesucher singen mit ernster Miene "Verleih uns Frieden gnädiglich".

Die meisten von ihnen bleiben zur anschließenden Podiumsdiskussion sitzen. Susanne Jensen verabschiedet einzelne Besucher, die sichtlich bewegt sind. Die Filmkameras folgen der kleinen, kahlköpfigen Frau im schwarzen Talar auf Schritt und Tritt. Vor dem Altar nehmen im Halbkreis Jensen, Opfervertreter Anselm Kohn, Familientherapeutin Birgit Maschke aus Lauenburg, Pastorin Angelika Weißmann und Propst Jürgen Bollmann aus Hamburg Platz. Sie wollen sich der Frage stellen, was Kirche bußfertig mache "im Spannungsfeld von Macht und Missbrauch". Und drohen, an der Nachricht des Tages zu scheitern, dem Entlassungsgesuch von Pastor Dieter K. und seinen Folgen.

"Was wird jetzt mit der Buße?", fragt Angelika Weißmann. Für sie sei nun alles "ins Wanken geraten". Propst Bollmann, der seit dem Rücktritt von Bischöfin Maria Jepsen kommissarisch ihren Platz eingenommen hat, stellt klar: "Es gibt für die Kirche nun keine Handhabe gegen Pastor K. mehr." Ein Raunen geht durch die Gemeinde.

Setzt der zur Aufklärung gegründete kircheninterne Krisenstab seine Arbeit fort? Sie denke nicht, dass die Arbeit des Krisenstabs erledigt sei, lautet die ausweichende Antwort von Weißmann. Zur Bußfertigkeit sei ein Schuldbekenntnis der erste Schritt, sagt Propst Bollmann. "Das Entlassungsgesuch ist ein deutlicher Beleg für ein Eingeständnis von K. Für mich ist die Täterschaft nicht mehr unklar." Kirche brauche nun einen Neuanfang. Buße habe auch die Funktion, eine Last loszuwerden. "Ich kann keine Buße erkennen", entgegnet Anselm Kohn. Er vermisse als Opfer das direkte Gespräch der Nordelbischen Kirche, eine Reaktion auf seine Kritik sowie eine ausreichende Unterstützung der Ahrensburger Pastoren. Applaus brandet in der Schlosskirche auf. In seinem Bemühen, das Handeln der Kirche zu rechtfertigen, wirkt Bollmann an diesem Abend hilflos. "Da, wo ich etwas tun kann, will ich es tun", sagt er. "Ich kriege mit, dass mehr passieren muss, als bisher passiert ist." Welche Lehren zieht die Nordelbische Kirche aus den Geschehnissen? Bollmann verweist auf Präventionsmaßnahmen und räumt ein: "Die Situation demütigt uns. Es ist schwer, der Sache habhaft zu werden."

Die anschließenden Fragen und Aussagen der Gottesdienstbesucher spiegeln den unvollendeten Weg der Aufklärung in der Kirchengemeinde Ahrensburg wider. Peter Meincke fragt: "Was ist Sühne für uns, wie gehen wir mit den Tätern um, wie mit den Opfern?" Wiebke Pinkowsky sagt: "Ich erkenne wenig Bußfertigkeit bei der Kirche. Ich habe Sorge, dass das Verfahren gegen den Mitbeschuldigten Friedrich H. begraben wird." Sie erntet Applaus. Am Ende dieses Abends dürfen die Besucher eine Kerze mit nach Hause nehmen. "Als Symbol dafür, Licht ins Dunkel zu bringen", sagt Pastor Holger Weißmann.

Anselm Kohn ruft für die kommenden fünf Montage zur Mahnwache vor der Schlosskirche auf. Kohn: "Ich stehe hier von 18 bis 20 Uhr und freue mich, wenn ich mich nicht nur mit mir selbst unterhalten muss." Sein Bruder Stephan Kohn fordert indes die Kirche auf, die Ermittlungsergebnisse unmittelbar an die Disziplinarkammer weiterzuleiten. Kohn sagt: "Wenn die Taten erklärtermaßen die Entfernung aus dem Dienst rechtfertigen, dann muss dies sofort geschehen."