Bank-Geheimnisse: In unserer Serie treffen wir Menschen auf ihrer Lieblingsbank. Heute: der Musiker und Alt-Hippie Jean-Hervé Péron aus Schiphorst

Schiphorst. Jean-Hervé Péron reißt die Arme in die Höhe, seine Augen fixieren den irischen Single Malt Whiskey. Beide Handflächen hat er jetzt über seinem Kopf gewölbt, so wie es Menschen machen, die gerade eine Eingebung haben. Dann sagt Jean-Hervé Péron, was für ihn Musik ist. Drei Silben: "Da! Hier! Hier!"

Seit 40 Jahren ist Péron mit der Band Faust unterwegs, seit 20 Jahren wohnt er in Schiphorst. Er selbst ist 61. Faust, das sind nur noch Péron und der Schlagzeuger Werner "Zappi" Diermeier. Sie machen Krautrock, sehr experimentelle Musik mit den unmöglichsten Instrumenten. Vergangene Woche waren sie noch auf Tournee, in Portugal und Spanien. An diesem Sonnabend sind sie schon in Schottland, und von dort aus fliegen sie zu einem Konzert nach Norwegen.

In Schiphorst macht sich Péron Gedanken um die große Frage nach dem Wesen der Musik. "Es ist nicht unsere Musik", sagt Péron. Er spricht mit leichtem französischem Akzent. "Die Musik hat mit mir nichts zu tun." Er selbst sei nur ein Medium, er nehme alles auf. "Die Musik, die überall schwebt", sagt er und betont jedes Wort, "die Musik, sie geht durch! mich! durch!"

Er wirft seine Hände nach vorne in den Raum, als stünde er vor Publikum. Die Musik sei Kunst, und Kunst könne man nicht verstehen, sagt Péron. "Mit Worten Musik erklären, das ist, ob du einen Architekten fragst: Können Sie mir bitte das Gebäude vortanzen?"

Einen Versuch ist es wert - mit Worten, Zeitungspapier ist stumm. Faust macht Musik mit Geräuschen. "C'est com... com... compliqué" heißt das letzte Album, und der gleichnamige Titel auf der CD dauert 13 Minuten und 40 Sekunden. Sphärische Klänge im Hintergrund, davor klappert es, ein Betonmischer quietscht, und Péron spricht wirres Französisch. Später klingeln Glocken.

Zwei Minuten lang klingt die Musik wie für die Yogastunde gemacht, dann ist sie wieder irritierend laut. Plötzlich bläst jemand in eine Trompete. Das Lied ist wie die Musik von Faust: ein einziges Experiment. Faust, das ist Gitarre, Bass und Bohrhammer.

In Pérons Haus in Schiphorst kann man sich verirren. Es ist ein alter Hof, den er zusammen mit seiner Frau in ein Künstlerhaus verwandelt hat. In Schiphorst könne er um drei Uhr morgens Musik machen, und niemand störe sich. "Es lebt sich entspannter als in Hamburg." Faust hat auf dem Hof schon Alben aufgenommen. Jedes Jahr im Juni kommen 500 Menschen zum Avantgarde-Festival, einer Veranstaltung für alle, die Faust lieben und verstanden haben, dass man ihre Musik nicht verstehen kann.

In den 60er-Jahren war alles einfach. Péron riss aus seinem Heimatort in der Normandie aus, weil dort niemand Fragen nach Homosexualität hören wollte und es nicht gut ankam, als er Napoleon einen Faschisten nannte. "Es war mir alles zu eng, zu konservativ", sagt Péron.

Er wird Hippie und folgt einem Mädchen. Sie lassen sich durch Europa treiben, per Anhalter. Auf dem Rücken tragen sie Gitarren, deren Musik etwas Geld einbringt, in den Straßen vom Polarkreis bis Casablanca. "Wir waren die Botschafter der Freiheit", sagt Péron. "Die beste Zeit meines Lebens."

Dann kommt er nach Hamburg, beschließt zu bleiben. Er trifft seinen Lebensfreund Werner Diermeier. Und eines Tages taucht ein Produzent auf, der linke Journalist Uwe Nettelbeck. Der entdeckt das Talent der Truppe um Péron und Diermeier. Nettelbeck bringt sie beim Label Polydor raus. Das erste Album nehmen sie in einer alten Dorfschule in Wümme auf, südlich von Hamburg. Die englischen Kritiker sind begeistert, nennen den Stil "Krautrock". Rock der Krauts, der Deutschen.

Zwei Jahre später erscheinen die "Faust Tapes", sie verkaufen sich in England hervorragend, in Deutschland gar nicht. Faust ist radikal, und Jean-Hervé Péron meint, zu radikal für Deutschland. Viele Krautrock-Bands seien anders gewesen, wollten nicht massenkompatibel sein. "Aber Faust", sagt Péron, "war noch radikaler." Er deutet mit dem Zeigefinger nach links. "Viiiiel radikaler".

Sie werden nie kommerziell. In Deutschland spielen sie nur in Hamburg und Berlin. Das vierte Album verkauft sich auch in England nicht besonders. Mitte der 70er-Jahre ist erst einmal Schluss - ungefähr, ein genaues Jahr nennt Péron nicht, denn mit dem Erinnern an die ersten Bandjahre sei es so eine Sache. "Da gab es viele bewusstseinserweiternde Substanzen."

Heute genügen Whiskey und Rotwein. Hund Panou liegt auf dem Sofa und knabbert an einem Fußball. Die Faust-Lieder verändern sich, die Melodie, die Performance. "Jedes Konzert ist anders", sagt Péron. Früher spielten sie oft keine eigenen Lieder auf der Bühne, sondern das, wozu sie Lust hatten. Was ihnen spontan einfiel. Oder sie machten überhaupt keine Musik. Die meisten Besucher verließen dann den Saal, aber das störte sie nicht.

Es war eben: Avantgarde. Musik, wie sie sein musste. Damals wie heute. Mitte der 90er hat Faust wieder zusammengefunden. Seitdem sind mehrere Alben erschienen. Péron sagt, er liebe die Musik. Es verletze ihn, wenn sie jemand kritisiere. Dann wird er laut. Niemand habe das Recht, zu sagen, dass die Musik Mist sei. "Was man sagen kann: Ich habe mich nicht berühren lassen von der Musik. Weil ich sie nicht verstanden habe."

Wenn Péron und Diermeier heute auftreten, musizieren sie. Garantiert. Eine Wundertüte ist die Band aber noch immer. Manchmal spielen sie ganz im Dunkeln, dann im grellsten Scheinwerferlicht, mal alte Nummern, mal neue. Was gerade gefällt. "Wir stellen uns jeden Abend wieder die Frage, was wir darbieten", sagt Péron. "Das ist anstrengend, es führt auch zu Spannungen."

Aber es ist eben Kunst. Spannung. Einmal im Jahr machen sie eine USA-Tournee, sehr oft spielen sie in England. In Portugal war der Auftritt verregnet. Péron hat nicht mehr viel Zeit, die Whiskeyflasche ist leer, am nächsten Morgen geht der Flieger nach Edinburgh. "Ich weiß", sagt Péron, "du willst die Dinge verstehen. Es ist aber ein großer Genuss, Sachen zu spüren, zu ahnen." Pérons Frau öffnet die Tür. Er nennt sie "Ma Chérie".