Bank-Geheimnisse: Wir treffen Menschen aus Stormarn auf ihrer Lieblingsbank. Heute: Forensiker Christian Kraus

Trittau. Angst hat Christian Kraus nie. Die Menschen, mit denen er verkehrt, machen hin und wieder Schlagzeilen. Sie haben vergewaltigt oder gemordet. Es sind grausame Menschen. Christian Kraus liest immer zuerst ihre Akten, in denen steht, was die Betreffenden verbrochen haben. Da bekomme er manchmal "ein Furcht einflößendes Gefühl", sagt Kraus. Aber bitte: keine Angst.

Wenn er die Akte gründlich genug studiert hat, fährt Christian Kraus in das Gefängnis, in dem der Straftäter sitzt, mit dem er sprechen muss. Er merkt: "Das ist ein Mensch wie du und ich." Oft, sagt Christian Kraus, seien es sogar sympathische Menschen, über deren Schicksal er ein Gutachten erstellen muss. Hebt er den Daumen, entlässt sie der zuständige Richter mit großer Wahrscheinlichkeit in die Freiheit. Senkt Kraus seinen Daumen, bleiben sie vermutlich in Sicherungsverwahrung. Christian Kraus ist Psychiater. Und unter anderem spezialisiert auf Straftäter, sogenannte "forensische Patienten". Aufgewachsen ist der heute 39-Jährige in Trittau.

Jetzt hat er es mit den großen Fällen der Justiz zu tun. Mit krankhaften Tätern. Darüber hat der Stormarner ein Buch geschrieben, einen Roman über einen fiktiven Psychiater und dessen Patienten, einen Mehrfachmörder. Es heißt "Der Seele dunkle Seite".

Christian Kraus sitzt auf dem Behandlungssofa seiner Praxis an der Hamburger Rothenbaumchaussee. Hohe, weiße Wände, Stuck, keine Gemälde. Ein flauschiger Teppich spannt sich über den Boden bis zu dem flachen, braunen Ledersofa. Christian Kraus hat eine große Tasse Cappuccino in der Hand. Seine Augen sind ruhig, im Raum liegt Stille. Überhaupt ist die Praxis eine Oase der Ruhe. Wie geht der Mann, der hier arbeitet, mit psychotischen Straftätern um? Er versuche, sagt Kraus, sie zu durchschauen, zu prüfen, ob sie sich in Andere hineinversetzen könnten, ob sie Mitleid zeigen könnten. Sie erinnerten ihn manchmal an Menschen, die er in der Bahn trifft. Umgängliche Leute. Aber Kraus weiß, dass sie in Wahrheit anders sind. Er weiß, was sie verbrochen haben. Er muss hinter ihr wahres Inneres kommen.

Verbrechern ist Christian Kraus als Kind eher nicht über den Weg gelaufen. Als er ein Jahr alt war, zogen seine Eltern von Hamburg nach Trittau. Dort ging er aufs Gymnasium. Er habe eine schöne Kindheit gehabt, sagt er. Das Landleben - draußen auf Bäume klettern, Fußball spielen, lange wegbleiben. Aber bald saß er am liebsten hinter einem Buch. Mit 16 begann er, "Psycholiteratur zu lesen". Er habe sich "eben schon früh für das Unbewusste interessiert", sagt er. Nach dem Abitur studiert er in Hamburg Medizin und spezialisiert sich schnell auf Psychiatrie. Nach dem Studium lässt er sich zum Psychiater ausbilden, nebenher auch zum Psychoanalytiker. Seitdem arbeitet er am Universitätsklinikum Eppendorf, seit drei Jahren führt er nebenher eine eigene Praxis.

Die forensischen Patienten trifft er nicht an der Rothenbaumchaussee. Um die zu sehen, muss er in Gefängnisse fahren. Eben so wie der Psychiater in seinem Roman. Es ist seine eigene Welt, in die Kraus den fiktiven Kollegen schickt: Die engen, muffigen Kabuffs der Gefängnisse, die Gerichtssäle, die Gewissensbisse. Der Moment, wenn der Straftäter ins Zimmer kommt. Im Buch ist es ein alter, zerbrechlicher Mann. Der Psychiater ist schockiert, er kennt ihn ja bislang nur aus den Akten. Christian Kraus hat diesen Moment schon dutzendfach erlebt. Seine ersten Fälle erlebte er noch als Praktikant. Einmal hatte sein Chef einen Mehrfachmörder vor sich. Kraus kam mit zum Termin. Ein verschrobener, gezeichneter Mann saß ihnen gegenüber. Für Kraus ein Schlüsselerlebnis. "Ich fand es genial, wie sich mein Chef auf den Gefangenen eingestellt hat." Seitdem, sagt Kraus, habe ihn "diese sehr eigene Welt, in der die Straftäter leben", nicht mehr losgelassen. Von Faszination wolle er nicht reden. Eher sei er immer wieder "beeindruckt, zu was Menschen in der Lage sind". Wenn Kraus spricht, klingt mit jedem Wort sein Respekt für die Verbrecher durch. Er sagt, er habe ihnen gegenüber "eine Verantwortung". Er müsse sich Mühe geben, sich auf jeden einzelnen Fall einstellen, immer wieder den Blick schärfen, ob jemand gefährlich ist oder nicht.

Wie bei dem einen Mann, der eine Freundin mit Sadomaso-Methoden quälte und sie am Ende ermordete. "Auf besonders grausame Weise", sagt Kraus. Die Akte las sich fürchterlich. Dann sitzt Kraus im Gefängnis einem netten Menschen gegenüber, kommunikativ, freundlich. Und Kraus muss eine Entscheidung treffen. Er plädiert dafür, ihn im Gefängnis zu lassen. "Seine krankhafte Seite war einfach nur sehr tief verborgen", sagt Kraus. "Er war in Wahrheit besonders gefährlich." Einmal hat sich Kraus geirrt, daran erinnert er sich bis heute. Er hatte einen psychisch nicht besonders gestörten Vergewaltiger vor sich, der seit Jahren im Gefängnis saß. Kraus sah kein Rückfallrisiko, der Mann wurde ein halbes Jahr früher entlassen. Kurz darauf kam er erneut hinter Gitter, wegen eines Sexualdelikts. Kraus sprach darüber lange mit Kollegen. So habe er die Geschichte verarbeitet. "Es kann keine absolute Sicherheit geben", meint er. "Dafür müsste man die Menschen ein Leben lang wegsperren."

Wie kommt man mit der Verantwortung zurecht? Kraus schaut einen Moment lang in die Leere. Er sagt, auch andere Berufe seien schwierig. Auch bei anderen Berufen nehme man abends etwas mit nach Hause. "Ich wache nachts nicht schweißgebadet auf. Aber einige Fälle verfolgen mich lange." Manchmal denkt er an die Serien-Vergewaltiger, die er vor einigen Jahren zu beurteilen hatte. Jeder sein eigener Fall, jeder in den Schlagzeilen. Das alte Dilemma: Die Öffentlichkeit hat sich schon festgelegt. Ging es nach ihr, käme der Täter nie wieder auf freien Fuß. Kraus muss all das ausblenden, ihm sitzt keine Bestie gegenüber, sondern ein "vielschichtiges Individuum", sagt er. Er muss den Fall im Gespräch von ganz vorn aufrollen. Die Gewissensbrüche, die Probleme, die Gefängnis-Gänge: Alles weit weg, wenn Kraus in seiner Praxis sitzt, inmitten der totalen Ruhe. Christian Kraus sagt, er überlege, ob er nicht nach Stormarn zurückziehen soll. Er kommt noch manchmal nach Trittau, weil seine Schwester dort lebt. Oder er fährt zum Inlineskaten an den Großensee - ganz weit weg von den Verbrechern, diesen beeindruckenden Individuen.

Das Buch "Der Seele dunkle Seite" ist im Hamburger Ellert & Richter-Verlag erschienen.