Bank-Geheimnisse: Wir treffen Stormarner auf ihrer Lieblingsbank. Heute: Ursula Nölle aus Oststeinbek, Gründerin eines Vereins, der Schulen baut

Oststeinbek. Sie ist schon "Großmutter Courage" genannt worden. Ein Titel, der es trifft, denn wenn irgendetwas Ursula Nölle besonders auszeichnet, dann sind es ihr Mut und ihre Tatkraft. Seit 26 Jahren kümmert sich die Oststeinbekerin, 85 Jahre alt, darum, Jungen und Mädchen in Afghanistan eine Schulbildung zu ermöglichen. Der von ihr gegründete Verein "Afghanistan-Schulen" hat 35 Schulen im Norden des Landes gebaut und organisiert eigene Ausbildungsprojekte. Dafür hat Ursula Nölle das Bundesverdienstkreuz bekommen.

Am Montag wird die fünffache Mutter, dreizehnfache Großmutter und zweifache Urgroßmutter zusammen mit der Schriftführerin des Vereins, Tanja Khorrami, für drei Wochen nach Afghanistan reisen - und dort auch ihren 86. Geburtstag feiern. Drei Jahre ist sie nicht dort gewesen, sondern hat ihren schwer erkrankten Mann gepflegt. Anfang des Jahres ist er 83-jährig gestorben. Jetzt hat sie wieder das Verlangen, nach Afghanistan zu reisen.

"Und es ist auch nötig, weil wir in direkten Gesprächen vor Ort viel mehr bewirken können", sagt sie. Ursula Nölle will alle Schulleiter treffen, mit der Schulbehörde sprechen und auch neue Projekte anschieben. Etwa das Hühnerprojekt: 2009 hat der Verein 2400 Hühner an 120 Lehrerfamilien verteilt, um denen eine weitere Einkommensquelle zu eröffnen. Hilfe zur Selbsthilfe. Als "Mama" oder auch "Mutter von Qurghan" wird "Großmutter Courage" aus Oststeinbek von den Afghanen verehrt.

"Wenn ich da bin, muss ich unbedingt bei meinen Enkeln schlafen", sagt sie. Diese fünf Kinder sind allerdings keine echten Enkel, sie sind die Kinder ihres 2007 ermordeten Mitarbeiters Rahmanqul. Der Auftragsmord an dem führenden Mitarbeiter, der wie ein Sohn für sie gewesen ist, hat dem Verein einen schweren Schlag versetzt. Er führte aber auch dazu, dass sich die Organisation vor Ort jetzt auf mehrere Schultern verteilt.

Auf Nölles Esstisch liegen die Manuskriptseiten für ihr Buch, das Ende des Jahres erscheinen soll. "Nimm das Herz in die Hand und spring" heißt es, und der Titel ist Motto ihres Lebens, durch das sich Neuanfänge wie ein roter Faden ziehen. "Ich bin eigentlich eine gescheiterte Existenz", sagt Ursula Nölle und lacht.

Als 16-Jährige musste sie von der Schule abgehen. Nach dem Arbeitsdienst im Krieg machte sie trotzdem auf der Abendschule ihr Abitur. Sie war in allen Fächern gut, nur in Mathematik haperte es. Bis ihr ein junger Mann die Trigonometrie erklärte. Er hieß Hugo Nölle und fragte sie am Tag des Abiturs, ob sie seine Frau werden wolle. 1947 begann sie, Biologie zu studieren, gab das Studium aber auf, als sie ihre Tochter und ein Jahr später ihren Sohn bekam. Die junge Mutter übernahm die Gärtnerei ihres Großvaters in Kirchsteinbek und baute den Betrieb wieder auf, während ihr Mann in Darmstadt studierte. Mit Mitte 20 hatte sie es geschafft und gestaltete Gärten für Kunden wie die Holsten Brauerei.

Doch 1955 bekam ihr Mann einen Job in San Francisco, und sie wanderte mit ihm nach Amerika aus. In Amerika wurden ihre Zwillinge geboren. Doch Ursula Nölle wollte nicht, dass ihre Kinder Amerikaner wurden. Zu oberflächlich und zu unpolitisch erschienen ihr die Menschen dort. Aus Sehnsucht nach Europa kam die Familie 1963 zurück nach Hamburg und zog vier Jahre später in das größere Haus in Oststeinbek, denn mit 43 Jahren war Ursula Nölle noch einmal Mutter geworden.

Dass sie mit 58 Jahren noch einmal ihr Herz in die Hand nehmen würde, ahnte sie nicht, als sie 1983 gemeinsam mit ihren beiden Töchtern Karen und Christine durch Pakistan und Afghanistan reiste; Christine studierte in Pakistan. In der pakistanischen Grenzstadt Peschawar kam sie zum ersten Mal in Kontakt mit afghanischen Flüchtlingen. Eine junge Lehrerin unterrichtete in ihrem Privathaus Mädchen, die sie aus einem Flüchtlingslager holte, und war mit ihren finanziellen Möglichkeiten am Ende. Ursula Nölle war zutiefst berührt von der Hingabe, mit der die Kinder lernten. "Dass es jemandem so viel bedeuten kann, Lesen und Schreiben zu lernen, hat mich überwältigt", sagt sie.

Auf dem Rückflug nach Deutschland warb sie schon am Münchner Flughafen um Spenden. Nach zwei Monaten hatte sie einen Verein gegründet, 800 Mark gesammelt und die Bestände an Nadeln und Nähgarn eines Stoffgeschäftes erhalten, das in Oststeinbek gerade aufgab. Von Anfang an verfolgte sie die Idee, dass sich die Menschen selbst helfen. Der Verein errichtete Schulen in Flüchtlingslagern, die er bis 2002 unterhielt.

Nach Abzug der Sowjettruppen 1988 baute Ursula Nölle die ersten Schulgebäude im afghanischen Bezirk Andkhoi. In der Zeit der Taliban-Herrschaft setzte sie auf "Home-Schools" in Privathäusern und unterlief damit das Verbot, Mädchen zur regulären Schule zu schicken. Weitere Schulen im Norden des Landes folgten. Fast 100 000 Jungen und Mädchen haben so bisher eine Ausbildung erhalten. "Einige von ihnen sind schon auf der Universität", erzählt sie stolz. Das 2006 eingeweihte "VUSAF Education Center Ulla Nölle" ("Ulla Nölle, weil Ursula niemand aussprechen kann") bietet heute Englisch- und Computerkurse für Lehrer, handwerkliche Ausbildungen und Förderkurse für Schüler, die eine Universität besuchen möchten.

Der 250 Mitglieder starke Verein bringt pro Jahr rund 800 000 Euro für seine Projekte auf, denn die afghanische Regierung zahlt nur die knappen Lehrergehälter und liefert die Schulbücher. Die Mittel kommen von der Bundesregierung, vom Hilfswerk Misereor, von privaten Spendern, von Patenschulen und Kirchen. Ein Büro in Kabul koordiniert alle Projekte.

Und Ursula Nölle, die Vorsitzende Marga Flader und andere Vereinsmitglieder reisen jährlich nach Afghanistan. Auf dem Rückflug haben sie regelmäßig auch heute noch viele Pläne für die Zukunft im Gepäck. "Denn noch immer fehlt es an allen Ecken."