Bank-Geheimnisse: Wir treffen Stormarner an ihrem Lieblingsplatz. Heute ist es der Marinepastor Erhard Graf

Klein Wesenberg. Seine Pastorenausbildung machte er in der DDR, später war er lange bei der Marine tätig - seit zweieinhalb Jahren ist Erhard Graf nun Pastor der Kirchengemeinde Klein Wesenberg. Von seiner Pastorenwohnung aus blickt er auf das Gotteshaus und auf die kleine Holzbank, die am Rande des Kirchberges steht. Oft ruhen sich dort Pilger aus. Denn der Jakobsweg führt direkt durch Klein Wesenberg. "Jeden Tag sehe ich ein bis zwei Leute hier über den Kirchberg pilgern", sagt Erhard Graf.

Heute hat er selbst auf der Bank Platz genommen, um auf 30 Jahre als Pastor zurückzublicken. So viele Jahre steht der 56-Jährige bereits im Dienst der Kirche. Dabei hatte er anfangs gegen viele Widerstände anzukämpfen. Mit seiner Entscheidung, Theologie zu studieren, sei er vor 35 Jahren "zum schwarzen Schaf der Familie" geworden. Damals lebte er in der DDR - genauer gesagt in Wittenberg. "Ich wurde im selben Becken wie Luthers Kinder getauft", sagt er. Als Jugendlicher ging Graf zum Konfirmandenunterricht, später war er in der Jugendkirche. "Das war anders als Schule oder FDJ", erinnert sich Graf, der zunächst eine Lehre als Messtechniker absolvierte und währenddessen sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg machte.

Mit Anfang 20 habe er sich dann entscheiden müssen, was er studieren wolle. "Meine Eltern hätten gern etwas Technisches gesehen. Für sie war es ein Schock, dass ich mich für Theologie entschieden habe", sagt Erhard Graf, "damit hatten sie nicht gerechnet." Zwar seien seine Eltern nicht "DDR-euphorisch" sondern eher kritisch gewesen, aber in seiner Familie hatte auch niemand ein kirchliches Amt ausgeübt.

Graf: "Einige Verwandte kannten mich plötzlich nicht mehr, weil es für die eigene Karriere nicht förderlich war, zu engen Kontakt zur Kirche zu haben."

Auch sein Vater, Lehrer an einer Sonderschule, bekam die Konsequenzen zu spüren. Ihm wurde vorgeworfen, bei der sozialistischen Erziehung versagt zu haben. Denn dass jemand aus einer nicht-kirchlichen Familie Theologie studierte, war damals äußerst selten. Kindern aus kirchlichen Familien blieb dagegen in der Regel nichts anderes übrig. "Dass jemand wie Bundeskanzlerin Angela Merkel als Pastorenkind Physik studiert hat, war eine absolute Ausnahme", sagt der Pastor.

Erhard Graf ließ sich von seinem Berufswunsch dennoch nicht abbringen. Im Herbst 1975 begann er sein Studium an der Universität Greifswald. Dort habe auch Marxismus-Leninismus auf dem Lehrplan gestanden, sagt der 56-Jährige. Nach fünf Semestern habe er darauf keine Lust mehr gehabt - er wechselte zur kirchlichen Hochschule in Erfurt und machte dort 1980 seinen Abschluss.

"In der DDR zu studieren, war eine Art Bachelor-System. Das Programm war straff, man musste das Studium schnell durchziehen", sagt Erhard Graf. Zehn Semester benötigte er bis zu seinem Abschluss. Anschließend zog er mit seiner Frau Elke in die kleine Gemeinde Vippachedelhausen in Thüringen, wo er eine Stelle als Pfarr-Assistent bekam. Seine Dienstfahrzeuge: Ein Trabi und eine Schwalbe.

Als Pastor habe er besonders im Fokus des Staates gestanden. Aber auch die Schüler mussten Konsequenzen befürchten, wenn sie zum Gottesdienst gingen. "Der Schuldirektor stand vor der Kirche und hat sich die Namen der Kirchgänger notiert", sagt Graf, "die Kinder hatten später Probleme."

Dennoch blieb Erhard Graf auch nach der Wende zunächst in Vippachedelhausen. "Ich hätte damals auch eine politische Karriere machen können, aber ich wollte Pastor bleiben" sagt er. Erst als er 1993 das Angebot bekam, als Marine-Pastor zu arbeiten, verließ er die Gemeinde. "Die Idee war, dass ich ein paar Jahre West-Erfahrung sammele und dann zurück nach Ostdeutschland komme, und dort das neu Gelernte einbringe", sagt er. Erhard Graf nahm die Herausforderung an und begann das "Abenteuer Marine". Er zog mit seiner Frau und den drei Kindern Friedrich Wilhelm, Alexander und Marie-Luise zunächst nach Kiel und später nach Eckernförde.

Aus den ursprünglich geplanten drei wurden zwölf Jahre bei der Marine. Die meiste Zeit davon arbeitete er an Land. Dort hatte er ein kleines Büro, organisierte Seminare und Tagungen, taufte Kinder, nahm Trauungen vor und machte Beerdigungen. Aber zu seiner Aufgabe gehörte es auch, auf See zu fahren. Graf: "Ich war für 20 U-Boote, das Segelschulschiff Gorch Fock, Kampfschwimmer, Minentaucher und eine Sportfördergruppe in Eckernförde zuständig."

Insgesamt kam er auf mehr als 650 Seetage, war in mehr als 50 verschiedenen Hafenstädten. "An der Nord- und Ostsee habe ich fast alle Hafenstädte abgeklappert", erinnert sich der Pastor, der aber auch im Mittelmeer und in der Karibik war. Graf: "Mal war ich nur drei oder vier Tage unterwegs, mal waren es aber auch vier bis sechs Wochen."

Auf den Schiffen habe er am Alltag der Besatzung teilgenommen, habe Gespräche mit ihnen geführt. Graf: "Der Vorteil war, dass niemand weglaufen konnte." Sonntags habe er zum Gottesdienst eingeladen. "Auf der Gorch Fock habe ich aber auch Vorträge gehalten, zum Beispiel über die islamische Kultur, wenn wir auf einer Fahrt im Mittelmeer unterwegs waren", erinnert sich der Pastor. So habe er junge Frauen darauf hingewiesen, dass sie sich in arabischen Ländern besser nicht im Bikini an den Strand legen sollten.

Gern erinnert er sich an eine Fahrt mit einem U-Boot nach Amerika zurück. "Wir sind in der Nähe der Stelle vorbeigefahren, wo die gesunkene Titanic liegt", sagt er. Da hätten ihn die Besatzungsmitglieder angesprochen, ob sie da nicht etwas machen müssten. Dieser Gedanken habe ihn beeindruckt. Graf: "Wir haben dann alle zusammen einen Psalm gebetet." Auch habe er auf den Fahrten sehr viele persönliche Gespräche führen können. Graf: "Nach einer Woche auf See ergibt sich schon so ein Vertrauensverhältnis, das in einer Gemeinde selbst nach zehn Jahren nicht möglich ist."

Die Familie habe dafür allerdings einen hohen Preis zahlen müssen. "Ich war bei keinem meiner Kinder bei deren Schulabschluss dabei", sagt er. Die Alternative sei gewesen, in eine Landgemeinde zu wechseln. Dass diese Lösung auch nicht besser gewesen wäre, sehe er jetzt. "Ich arbeite 50 bis 60 Stunden pro Woche", sagt Graf, "die Zeit fehlt der Familie." Als Ausgleich zur vielen Büroarbeit gehe er Laufen. 2005 war er sogar beim Marinemarathon in Washington dabei.

Vor vier Jahren ging seine Zeit bei der Marine zu Ende. "Plötzlich hing ich völlig in der Luft, obwohl mir eine Stelle zugesichert worden war", sagt Graf, "aber jemand, der mal als Militärpastor tätig war, ist als konservativ verschrien." Oft habe er seine Mappe ungelesen zurückbekommen - bis es vor zweieinhalb Jahren endlich in Klein Wesenberg mit einer neuen Anstellung klappte. Graf: "Es ist ein anderer Rhythmus - aber die stürmische See vermisse ich nicht." Früher habe er während seines Urlaubs nie wegfahren wollen, weil er so oft weg war. Das sei jetzt anders.