Eine Glosse von Raphael Geiger

In Moskau gibt es Menschen, die graben im Januar ein Loch in die zugefrorene Moskwa, damit sie im Eiswasser schwimmen können. Die Mitglieder des Vereines Berliner Seehunde springen jedes Jahr am ersten Weihnachtstag in den Orankesee. Sie lieben es, nackt im eiskalten See zu baden. Ich gehöre nicht zu diesen Menschen. Ich bevorzuge es, in Wassern zu schwimmen, die wenigstens 25 Grad warm sind. Ich habe meine Nase gern frei. Ich hasse den Geschmack von Hustenbonbons.

Und dann zeigte das Thermometer in meinem Auto gestern Morgen ein einziges Grad an. Und ich hörte ein eigenartiges Kratzen, als der Scheibenwischer über die Windschutzscheibe fuhr. Gegen das Eis war er machtlos.

Natürlich hatte ich keinen Eiskratzer dabei. Am Wochenende war goldener Oktober. Jetzt klebt das Eis an der Scheibe. Mit den Armen bekomme ich es nicht weg, die Lederjacke ist zu glatt. Also mit den Fingern. Kritzkratz. Das macht man höchstens fünf Sekunden lang, wenn man kein Berliner Seehund ist.

Alles, was im Wagen liegt, reibe ich an der Scheibe. Ein Buch, eine DVD-Box. Alles besser als meine Hände in HSV-Farben. Minutenlang turne ich ums Auto, bis die Scheibe wieder so ist, wie sie den Sommer über freiwillig war: transparent.

Die Seehunde haben sich gestern sicher gefreut, für sie beginnt die Freibadsaison. Ich kaufte mir in der Mittagspause eine Schachtel Lebkuchen. Und machte mir warme Gedanken.