Der pensionierte Lateinlehrer Heinz Graefe aus Ahrensburg ist für eine Vertretungszeit reaktiviert worden. Er ist kein Einzelfall

Ahrensburg. "Wo ist denn der Oberstufentrakt?" Heinz Graefe fragt einen Schüler, der deutet in die entgegengesetzte Richtung. "Ach so, da drüben", sagt Graefe. Er macht kehrt. Es ist halb zehn, die große Pause im Ahrensburger Gymnasium am Heimgarten neigt sich dem Ende entgegen. Und Lateinlehrer Graefe sucht sich seinen Weg zum Unterricht. "Das ist hier immer noch so unübersichtlich wie früher", sagt er, nun auf dem richtigen Kurs in den rechten Flügel des Gebäudes, nicht in den linken.

Heinz Graefe ist jahrzehntelang nicht hier gewesen. 1983 hat er den Heimgarten verlassen, um fortan im Großhansdorfer Emil-von-Behring-Gymnasium zu unterrichten. Vor knapp zehn Jahren ist er dort in Pension gegangen. Und nun schreitet er, 71-jährig, wieder durch die Korridore am Reesenbüttler Redder. Er ist klein und schlank, seine Harre sind voll und grau. Seine Augen funkeln noch immer jungenhaft. Schelmisch. Graefe ist aus dem Ruhestand reaktiviert worden.

Patricia Zimnik, Sprecherin des Kieler Kultusministeriums, sagt: "In Einzelfällen springen immer wieder mal pensionierte Lehrkräfte ein, wenn Bedarf besteht. Wir sind auch heilfroh, dass die das machen."

Heinz Graefe ist inzwischen vor dem Klassenzimmer mit der Nummer 212 angekommen. Hier besteht Bedarf. Sieben Mädchen und fünf Jungen aus dem 13. Jahrgang warten schon. Ihr Lateinlehrer ist länger erkrankt. "Bin ich hier richtig?", fragt Heinz Graefe. Er unterrichtet diese jungen Leute und später am Tag noch ein paar mehr seit gut drei Wochen - zu wenig Zeit, um sich schon alle Gesichter eingeprägt zu haben. Die Schüler nicken. Heinz Graefe, ein paar Hefte und Zettel unter den Arm geklemmt, tritt ein.

Auf dem Stundenplan stehen Ovids Metamorphosen. Die Klasse behandelt gerade "Die vier Weltalter". Das goldene Zeitalter, in dem es keine Rechtsprechung gab, weil es kein Unrecht gab, haben sie schon durchgenommen. Das silberne und das eherne auch. An diesem Tag ist das eiserne Zeitalter dran, in dem Krieg geführt wird mit Eisen und mit "schädlichem Gold". Die Schüler beginnen zu übersetzen. Sie machen das in kleinen Gruppen, beratschlagen sich, diskutieren. Heinz Graefe vorn am Pult beobachtet sie und denkt an früher. "Ich gehöre ja noch zu der Generation, die Frontalunterricht gemacht hat", sagt er. "Die Schüler haben mir aber sehr schnell erklärt, dass sie das nicht wollen. Dass sie Lexika hätten und selbstständiges Arbeiten gewohnt seien." Heinz Graefe weiß nicht, ob er heute noch gern Lehrer wäre.

Sein neuer Chef, Schuldirektor Gerd Burmeister, ist hingegen begeistert von dem Einsatz des neuen, lebensalten Kollegen. Ohne den wäre der Stundenplan zusammengebrochen. "Man muss ja auch Latein können, um es zu unterrichten", sagt Burmeister. Am Heimgarten-Gymnasium können es drei. Wenn einer ausfällt, wird es eng. Landesweit haben nur 428 der rund 26 000 Lehrer die Befähigung, Lateinunterricht zu geben. "Wir haben es als Mangelfach eingestuft, weil sich zuletzt immer weniger Lehramtsstudierende eingeschrieben haben", sagt Ministeriumssprecherin Zimnik. Gleichzeitig werde die Sprache bei Schülern wieder beliebter.

Deshalb hat das Land ein Förderprogramm aufgesetzt. Lehrer, die nicht Latein studiert haben, können eine zweijährige Zusatzausbildung durchlaufen, an deren Ende sie in der gymnasialen Mittelstufe unterrichten dürfen. "Auf diese Art und Weise haben wir im vergangenen Jahr 50 zusätzliche Latein-Lehrkräfte gewinnen können", sagt Patricia Zimnik. In diesem Schuljahr läuft das Programm letztmalig. Die Lage entspanne sich leicht.

Im Klassenzimmer 212 nähern sich die Übersetzungsversuche ihrem Ende. Vivitur ex rapto. Non hospes ab hospite tutus. Non socer a genero. Fratrum quoque rara est. Und so weiter. Die Schüler beginnen nacheinander vorzulesen, was sie zu Papier gebracht haben: Man ernährte sich vom Raub. Der Gast war nicht sicher vor dem Gastgeber, der Schwiegervater nicht vor dem Schwiegersohn, und selbst die Liebe unter den Brüdern war selten.

Am Ende verlässt die Sternenjungfrau die mordbluttriefende Erde. Und Heinz Graefe möchte mit seinen Schülern über den Text sprechen. "In welches der von Ovid beschriebenen Zeitalter würden Sie sich heute einordnen?" Schüler mögen solche Fragen, und schon beginnt eine Diskussion. In das letzte, meint ein Junge. Er denkt an Terror und an die Globalisierung. Nein, meint ein Mädchen, so schlimm war es doch nur in der DDR, wo man niemandem trauen konnte. Wegen der Stasi und so.

Heinz Graefe lehnt sich auf seinem Holzstuhl zurück. "Als ich ein kleiner Junge war, soll ich meine Eltern in einer Hamburger Bombennacht gefragt haben: In welchen Bunker seid ihr eigentlich gegangen, als ihr so klein ward wie ich?" Damals habe er das Schreckliche offenbar einfach als das Selbstverständliche hingenommen. Dann schreibt Graefe ein Zitat an die Tafel, das nicht von Ovid stammt, sondern von Plautus: "Homo homini lupus. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf."

Stille in Klassenzimmer 212. Der Lehrer und seine Schüler schweigen einen Augenblick gemeinsam. Der eine denkt vielleicht an seine Kindheit im Hamburg-Altona der frühen 40er-Jahre zurück. Den anderen wird womöglich gerade klar, dass es eigentlich keinen Lehrer mehr gibt, der ihnen noch von eigenen Erlebnissen aus dem Zweiten Weltkrieg erzählen könnte - nicht mal eine Randnotiz.

"Es ist sehr interessant, mit einem so erfahrenen Menschen zu tun zu haben", sagt Schülerin Regina Schamann, 18. "Er ist sehr sympathisch. Dass er so alt ist, finde ich gar nicht störend." Und ihre Platznachbarin Julia Wissel, 18, fügt hinzu: "Wir sind sehr froh, dass er hier ist. So geht der Unterricht wenigstens weiter."

Wie lange wird Heinz Graefe noch bleiben? Endet sein Einsatz heute, oder bekommt er nach den Herbstferien eine Verlängerung? Er weiß es noch nicht, sein Chef weiß es ebenso wenig. Die Schüler wissen es erst recht nicht.

Die Stunde ist zu Ende. Heinz Graefe verabschiedet sich. Dann sucht er den Weg zum Ausgang.